
Staatsanwalt Simon Burger gegen die Kantonspolizei: Das sind die Streitfälle um Verhaftungen – und so beurteilt der Rechtsprofessor den Konflikt

Simon Burger, der umstrittene Leitende Staatsanwalt der Bezirke Zofingen und Kulm, liegt seit Jahren im Clinch mit der Kantonspolizei. Diese musste nach einer kritischen Eingabe von Burger einen Dienstbefehl überarbeiten, gegen den Staatsanwalt läuft derweil ein Disziplinarverfahren wegen seines Verhaltens gegenüber der Kantonspolizei.
Aufgrund der Kritik von Burger am Vorgehen der Polizei bei Kontrollen von vermeintlichen Kriminaltouristen – also Personen ohne Wohnsitz in der Schweiz, die hier Einbruchdiebstähle begehen – gab der Regierungsrat ein juristisches Fachgutachten in Auftrag.
Andreas Donatsch, ehemaliger Professor für Straf- und Strafprozessrecht an der Universität Zürich, untersuchte die Praxis der Polizei und Burgers Vorwürfe. Das Gutachten liegt der AZ vor, der Regierungsrat hat dieses Dokument auf Anfrage in anonymisierter Form herausgegeben.
Gutachter war selber Richter, Staatsanwalt und Polizeioffizier
Gutachter Donatsch, der vor seiner Tätigkeit als Professor auch Richter, Staatsanwalt und Polizeioffizier war, befasst sich darin auf 60 Seiten mit dem korrekten Vorgehen bei Kontrollen von mutmasslichen Einbrechern. Neben zum Teil hoch komplexen juristischen Erläuterungen zu den Kompetenzen von Polizei und Staatsanwaltschaft enthält das Gutachten auch einige konkrete Fallbeispiele.
Simon Burger hatte bei seiner Eingabe mehrere Dossiers mitgeliefert, bei denen die Polizei aus seiner Sicht nicht korrekt vorgegangen ist. Weil das Gutachten von Rechtsprofessor Donatsch an einigen Stellen geschwärzt ist, lassen sich nicht alle diese Fälle klar identifizieren. Bei zwei Dossiers ist dies aber möglich und die Medienmitteilung der Polizei lässt sich mit dem weiteren Verlauf des Falles vergleichen.
Ende November 2018 waren 138 Angehörige von Kantons-, Regional- und Transportpolizei sowie vom Grenzwachtkorps in der zweiten Auflage einer koordinierten Fahndungsaktion im Einsatz. Zuvor hatte Polizeikommandant Michael Leupold im TalkTäglich bei Tele M1 angekündigt, man werde nach einer ähnlichen Aktion eine Woche früher «nochmals gegen die Dämmerungseinbrecher antreten».
Polizei bezeichnet Aktion als Erfolg – Staatsanwalt Simon Burger übt Kritik
Fall 1 – Polizeimeldung vom 25.11.2018: «In der Autobahnausfahrt in Rothrist wurde ein Auto mit drei Rumänen kontrolliert, welche Einbruchswerkzeug mit sich führten. Sie wurden für weitere Abklärungen vorläufig festgenommen.»
In einer Mitteilung wertete die Kantonspolizei den Einsatz als Erfolg und teilte mit, neun Personen seien vorläufig festgenommen worden. Betrachtet man die Details der Fälle, relativiert sich der Erfolg allerdings.
Der Fall landete bei der Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm, die von Simon Burger geleitet wird. Die Staatsanwaltschaft musste aufgrund der Akten entscheiden, ob ein Strafverfahren eröffnet wird. Sie tat dies nicht, wie es in den Unterlagen heisst, die Burger für das Gutachten einreichte – der Fall wurde nicht anhand genommen. Das passiert, wenn die Hinweise und Verdachtsmomente gegen die angeblichen Einbrecher nicht ausreichen.
Gutachter sieht dürftige Verdachtslage und kritisiert lange Haft
Rechtsprofessor Donatsch schreibt, die Polizei habe im Auto der drei Rumänen eine Rohrzange, mehrere Schraubenzieher und weiteres Werkzeug gefunden. Zudem habe das Trio wenig Bargeld dabei gehabt, was im Rapport zum Eintrag führte, «es wäre denkbar, dass die Angehaltenen versuchten, ihre Barschaft mittels deliktischer Tätigkeit aufzubessern».
Allerdings sei die Verdachtslage mit Blick auf Einbruchsdiebstähle und Verstösse gegen das Ausländergesetz dürftig, hält Donatsch fest. Die Befragung der Rumänen sei «innert einem vertretbaren Zeitraum erfolgt», schreibt der Gutachter. Es sei aber nicht ersichtlich, warum die drei Personen «danach inhaftiert und erst am Folgetag entlassen worden sind», kritisiert Donatsch.
Handschuhe, Schraubenzieher und Hammer im Auto – aber kein Einbrecher
Fall 2, Polizeimeldung vom 25.11.2018: «In Kölliken wurden ein Kosovare und sein Fahrzeug eingehend begutachtet. Im Fahrzeug konnten Latexhandschuhe und Einbruchswerkzeug sichergestellt werden. Für weitere Abklärungen wurde der Mann vorläufig festgenommen.»
Im Rahmen der gleichen Polizeiaktion kam es zu einer weiteren Festnahme, die Staatsanwalt Burger als kritisch betrachtete und Professor Donatsch in seinem Gutachten untersuchte.
Auch diesen Fall nahm die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm nicht an die Hand, zumal die Begründung der Polizei für die vorläufige Festnahme dürftig war, wie Donatsch schreibt. In den Akten heisst es demnach, beim Kosovaren bestehe der «Verdacht auf die Begehung von Vermögensdelikten».
In seinem Auto seien neben den Handschuhen zwei Schraubenzieher und ein Hammer gefunden worden. Befragt worden sei der Mann erst 14 Stunden nach der Festnahme – der Verdacht auf einen Einbruchdiebstahl erhärtete sich offenbar nicht. Der ehemalige Uniprofessor kritisierte auch in diesem Fall, der Mann sei unverhältnismässig lange inhaftiert gewesen.
Burger reichte zehn Fälle ein – bei keinem gab es ein Strafverfahren
Staatsanwalt Simon Burger reichte beim Innendepartement insgesamt zehn Dossiers von Fällen ein, in denen es aus seiner Sicht zu unrechtmässigen Festnahmen durch die Polizei gekommen war. Zu den übrigen acht Fällen, die oben nicht aufgeführt sind, finden sich keine Mitteilungen der Kantonspolizei. Die von Burger kritisierten Verhaftungen ereigneten sich alle zwischen Ende Dezember 2017 und Ende September 2019, umfassen also einen Zeitraum von rund 21 Monaten.
Gutachter Donatsch schreibt zusammenfassend, in den meisten Fällen fehle es an konkreten Anhaltspunkten für ein strafbares Verhalten. Dies wäre aber die Voraussetzung für eine vorläufige Festnahme. Dass im Auto ein Schraubenzieher gefunden werde, dass die Festgenommenen einmal sehr wenig, ein anderes Mal relativ viel Bargeld dabei hatten, oder die Tatsache, dass in der Umgebung kürzlich eingebrochen worden sei, reiche nicht aus, um einen Verdacht gegen die kontrollierten Personen zu begründen.
Gutachter: Nicht erwiesen, dass die Polizei bei Kontrollen immer so vorgeht
Rechtsprofessor Donatsch schreibt mit Blick auf das Vorgehen der Polizei, eine kontrollierte Person länger als drei Stunden zu inhaftieren, sei problematisch. Bei einer vorläufigen Festnahme müssten die Betroffenen zudem unverzüglich über ihre Rechte informiert und rasch zu den Vorwürfen befragt werden. Und es sei heikel, ohne Anfangsverdacht einen DNA-Test oder einen Schuhsohlen-Abgleich anzuordnen.
Zudem müsse die Polizei den Ablauf des Einsatzes im Rapport besser dokumentieren: Zeitpunkt der Kontrolle, der vorläufigen Festnahme, der Befragung, der erkennungsdienstlichen Behandlung und der Entlassung aus der Haft müssten vermerkt werden.
Burger äussert sich nicht zu den Ergebnissen des Gutachtens
Donatsch hält aber auch fest, bei den untersuchten und von Burger eingereichten Dossiers handle es sich um eine Auswahl von Fällen. Es sei damit keineswegs erwiesen, dass diese für das Verhalten der Polizei bei der Kontrolle von mutmasslichen Kriminaltouristen repräsentativ sei.
Simon Burger möchte sich auf Anfrage der AZ nicht zu den Erkenntnissen von Gutachter Donatsch äussern. Burger sagt auch nichts zur Frage, ob es sich beim kritisierten Verhalten der Polizei nur um Einzelfälle in der Region Zofingen-Kulm handelt, oder ob ein grundsätzliches Problem vorliegt.
Nicht nur Burger gegen Kantonspolizei – sondern ein grösseres Problem
Samuel Helbling, Sprecher des Innendepartements, das für Polizei und Staatsanwaltschaft zuständig ist, geht nicht auf die Kritik von Professor Donatsch an vorläufigen Festnahmen und der langen Inhaftierung ein.
Bei den untersuchten Fällen seien Mängel bei der Erfüllung der Dokumentationspflicht festgestellt worden, teilt Helbling auf Anfrage mit. In den Akten seien «nicht alle Handlungen der Kantonspolizei genügend dokumentiert».
Immerhin wird aus Helblings Antwort klar, dass es sich nicht nur um einen Konflikt zwischen Burger und der Kantonspolizei, sondern um ein grundsätzliches Problem handeln dürfte.
«Es ist davon auszugehen, dass dies auch in anderen Fällen und Regionen der Fall war»,
teilt der Sprecher mit Blick auf die mangelhafte Dokumentation der Polizei mit. Verbesserungsmassnahmen wurden laut Helbling eingeleitet: Der Dienstbefehl der Kantonspolizei wurde angepasst, die Vorlagen für die Rapporte aktualisiert, und ein Formular zur korrekten Protokollierung von Befragung und Rechtsmittelbelehrung erarbeitet. Diese Massnahmen gelten für die gesamte Staatsanwaltschaft und Kantonspolizei und werden für das ganze Kantonsgebiet umgesetzt.