Kinderpsychiaterin: «Im Aargau herrscht ein drastischer Versorgungsnotstand» – PDAG will 5,5 Millionen vom Kanton

Die Worte, die der Aargauer Regierungsrat in der Botschaft zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie wählt, um die Situation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Kanton zu beschreiben, sind drastisch. Es ist die Rede von einer «Zunahme von akuten Krisen und Notfällen», von «schwerwiegenden gehäuften selbst- und fremdschädigenden Verhaltensweisen» und von Wartezeiten, die «in noch nie da gewesenem Ausmass» gestiegen sind.

Zwischen Januar und August 2021 sind auf der Akutstation der psychiatrischen Klinik für Kinder und Jugendliche in Königsfelden 206 Patientinnen und Patienten behandelt worden. Das sind mehr als im ganzen Jahr 2019, als 200 Kinder und Jugendliche behandelt wurden.

Auf einer Akutstation landen Kinder oder Jugendliche, wenn sie sich selbst oder andere gefährden. «Aggressionen und Selbstverletzungen haben bei Kindern und Jugendlichen zugenommen», sagt Angelo Bernardon, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Dienste Aargau (PDAG).

Pandemie hat Auswirkungen auf psychische Gesundheit von Kindern

Dass mehr Kinder und Jugendliche psychiatrische Hilfe brauchen, ist nicht neu. Die Fallzahlen sind schon vor der Coronapandemie jedes Jahr gestiegen. «Aber den Anstieg, den wir in den letzten eineinhalb Jahren sehen, liegt deutlich darüber», sagt Angelo Bernardon. Studien belegen inzwischen, was schon länger vermutet worden war. Die Pandemie hat Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von jungen Menschen.

Belastend sei beispielsweise der Wegfall einer Tagesstruktur durch die Schulschliessungen, sagt Bernardon. Auch wenn Kinder mitbekommen, dass sich ihre Eltern Sorgen machen, den Job zu verlieren, könne das belastend sein oder innerhalb der Familie zu Spannungen führen. Nicht zuletzt sei es für Kinder und Jugendliche besonders schwer gewesen, dass viele soziale Aktivitäten lange Zeit nicht oder nur eingeschränkt möglich waren, sagt Bernardon.

Wie in der Erwachsenenpsychiatrie, sind auch die stationären Plätze in der Klinik für Kinder und Jugendliche permanent ausgelastet. Jene, die nicht sofort Hilfe brauchen, müssen warten. Aktuell befinden sich laut Angelo Bernardon drei bis fünf Kinder und Jugendliche auf der Warteliste. Das sei vertretbar, sagt der Chefarzt. Er fügt aber an, dass jetzt gerade Ferienzeit sei und das immer eine gewisse Entspannung gebe.

Die prekäre Lage im Aargau hängt auch mit der Versorgungssituation zusammen. Während schweizweit auf 1000 Kinder 0,32 Kinderpsychiater kommen, sind es im Aargau nur 0,15.

Eine der Kinderpsychiaterinnen, die im Aargau tätig ist, ist Karin Wiedmer. Sie hat vor zehn Jahren in Wohlen eine Praxis eröffnet und sagt: «Im Aargau herrscht in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ein drastischer Versorgungsnotstand.» Im Freiamt sei die Versorgungssituation noch schlechter als im Rest des Kantons. Abgesehen vom Ambulatorium der PDAG gibt es im Freiamt nur ihre Praxis.

Keine Neuanmeldungen bis Februar 2022

Karin Wiedmer hat jeden Tag mehrere Anfragen. Manchmal weinen die Eltern am Telefon, weil sie so verzweifelt eine Therapeutin für ihre Kinder suchen. Aber Neuanmeldungen können sie und ihre Kolleginnen bis Februar 2022 keine mehr annehmen. Sie können schlicht nicht noch mehr leisten. «Ich biete bereits einmal pro Woche eine Sprechstunde bis Mitternacht an», sagt Wiedmer.

Dass die Versorgung in Notfallsituationen durch die PDAG gewährleistet ist, bestätigt sie. Das Problem sei aber, dass die Kinder vielfach nur eine bis zwei Nächte stationär aufgenommen und dann wieder entlassen werden. «Häufig folgt dann kurz darauf eine nächste Krise und das Kind muss wieder in die Klinik.» Das Feuer werde zwar gelöscht, sagt Wiedmer. «Aber der Schwelbrand bleibt.»

Bereits 2018 schlugen Kinderärzte und Kinderpsychologinnen Alarm und sprachen von einem Behandlungsnotstand. Auch Karin Wiedmer hält fest: «Die Situation ist seit langem bekannt, sie wurde einfach lang schöngeredet.» Inzwischen habe der Kanton das Problem erkannt, sagt sie. «Doch die Frage ist: Was passiert jetzt?»

Kanton Zürich hat 8 Millionen Franken Soforthilfe gesprochen

Andere Kantone haben bereits reagiert. Der Kanton Zürich hat eine Zusatzfinanzierung von knapp acht Millionen Franken als Soforthilfe für die Kinder- und Jugendpsychiatrie bewilligt. Der Aargauer Regierungsrat schreibt in der Botschaft zur Bekämpfung der Covid-Pandemie lediglich, das Gesundheitsdepartement werde prüfen, ob auch im Aargau eine Zusatzfinanzierung für die Kinderpsychiatrie notwendig sei.

Einen Antrag dafür haben die Psychiatrischen Dienste bereits Ende Juni an die Regierung gestellt. Sie verlangen rund 5,5 Millionen Franken. Mit dem Geld wollen sie unter anderem ambulante Krisenbehandlungsplätze auf-bauen, eine neue Station für Adoleszente und zusätzliche Tagesklinikplätze schaffen.

Angelo Bernardon ist zuversichtlich, dass sich das Fachpersonal für die neuen Aufgaben rekrutieren lässt: «Für differenzierte Angebote lassen sich immer wieder Interessentinnen und Interessenten finden.»

Regierungsrat Jean-Pierre Gallati sagt, die Abteilung Gesundheit kläre zurzeit die Situation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ab und bearbeite den Antrag der PDAG. «Ob es zu einem Antrag an den Regierungsrat kommt, ist noch offen», so Gallati.