Grenzwert nach Klage aufgehoben: Aargauer Gemeinden müssen Trinkwasser nicht mehr auf Chlorothalonil untersuchen

Vor anderthalb Jahren, im Dezember 2019, stufte das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) das Pflanzenschutzmittel Chlorothalonil als wahrscheinlich krebserregend ein, seit 2020 ist es verboten. Dies hatte zur Folge, dass Wasserversorger und Gemeinden ihr Trinkwasser auf Abbauprodukte des Pestizids untersuchen mussten. Und es wurde ein Grenzwert festgelegt: Liegt die Konzentration der Chlorothalonil-Metaboliten, wie die Abbauprodukte offiziell heissen, über 0,1 Mikrogramm pro Liter, ist dieser überschritten.

Schon zuvor wurde im Aargau das Trinkwasser getestet, im Oktober 2019 ergab eine Untersuchung des Kantons, dass der Chlorothalonil-Wert in jeder achten Gemeinde zu hoch war. Ende Juli 2019 waren zwei Wasserfassungen vom Netz genommen worden, weil die Chlorothalonil-Werte zu hoch waren. Seither gab es mehrere politische Vorstösse zum umstrittenen Pestizid, so kritisierte SP-Grossrat Thomas Leitch die intransparente Praxis des Kantons, der nicht bekannt geben wollte, in welchen Gemeinden der Grenzwert überschritten wird.

Grünen-Grossrat Hansjörg Wittwer forderte gar ein totales Spritzverbot rund um Wasserfassungen, weil die Belastung durch Pestizide zu hoch sei. Ganz anders sah dies Mitte-Vertreter Ralf Bucher, der auch Geschäftsführer des Bauernverbandes ist. Er bezeichnete den Vorstoss als überflüssig und hielt fest, das Trinkwasser im Aargau sei einwandfrei, wie das kantonale Labor festgestellt habe.

Agrochemiekonzern Syngenta akzeptiert Chlorothalonil-Verbot nicht

Die politische Diskussion im Aargau läuft vor dem Hintergrund einer rechtlichen Auseinandersetzung darüber, wie gefährlich Chlorothalonil tatsächlich ist. Der Agrochemiekonzern Syngenta, der das Spritzmittel herstellt und verkauft, hat gegen das zuständige Bundesamt geklagt. Ein definitives Urteil, ob das Chlorothalonil-Verbot bestehen bleibt, steht noch aus.

Doch das Bundesverwaltungsgericht hat zwei Zwischenentscheide gefällt, die beide zu Gunsten von Syngenta ausfielen. Ende August 2020 verbot das Gericht dem Bundesamt, auf seiner Website zu schreiben, dass Chlorothalonil wahrscheinlich krebserregend sei. Zudem musste auch der Hinweis entfernt werden, dass Abbauprodukte des Mittels im Trinkwasser für dessen Qualität relevant seien.

In einer zweiten Zwischenverfügung von Mitte Februar dieses Jahres entschied das Gericht, dass auch eine Weisung mit dem Titel «Anordnung von Massnahmen bei Höchstwertüberschreitungen von Chlorothalonil-Metaboliten im Trinkwasser» bis zum definitiven Entscheid über die Klage von Syngenta von der Website des Bundesamts entfernt werden muss. Der Bund hat dies akzeptiert, um den inhaltlichen Entscheid des Gerichts über das Chlorothalonil-Verbot nicht weiter zu verzögern.

Grenzwert für Chlorothalonil-Abbauprodukte im Wasser aufgehoben

Was nach einem juristischen Streit klingt, hat konkrete Auswirkungen auf die Gemeinden und Wasserversorger im Aargau. Dies zeigt ein Schreiben des kantonalen Amtes für Verbraucherschutz, das kürzlich von Irina Nüesch, Leiterin der Sektion Trink- und Badewasser, verschickt wurde. In dem Brief wurden die Gemeinden über drei wichtige Änderungen informiert, die nach dem Gerichtsentscheid gelten:

  • Für Chlorothalonil-Abbauprodukte in Trinkwasser gilt kein Höchstwert mehr.
  • Amtlich erhobene Trinkwasserproben mit einer Konzentration von Chlorothalonil-Abbauprodukten von mehr als 0,1 Mikrogramm pro Liter werden nicht mehr beanstandet.
  • Die Wasserversorger sind nicht mehr verpflichtet, ihre Wasserressourcen und das abgegebene Trinkwasser auf Rückstände von Chlorothalonil zu untersuchen.

Solange der Hauptentscheid des Bundesverwaltungsgerichts aussteht, könnten auch Wasserproben, die von Wasserversorgungen beim Kanton zur Analyse eingereicht werden, weder als einwandfrei noch als mangelhaft bezeichnet werden, wenn sie über 0,1 Mikrogramm Chlorothalonil-Abbauprodukte aufweisen.

Trinkwasser-Spezialistin beim Kanton: «Information wird noch schwieriger»

Trinkwasser-Spezialistin Nüesch ist nicht glücklich über diesen Entscheid des Gerichts, dies geht aus dem Schreiben an die Gemeinden und Wasserversorger deutlich hervor. Sie schreibt:

«Eine klare, für die Konsumentinnen und Konsumenten nachvollziehbare Kommunikation der Trinkwasser-Qualitätsaspekte im Zusammenhang mit Chlorothalonil-Rückständen wird noch schwieriger, als sie es bisher schon war.»

Die Reaktionen nach dem Bekanntwerden der Chlorothalonil-Rückstände lassen laut Nüesch aber keinen Zweifel an den Erwartungen der Aargauerinnen und Aargauer: «Sie dulden diese Rückstände nicht in ihrem Trinkwasser.» Die Spezialistin des Kantons fordert die Gemeinden deshalb auf, ihre Wasserbezüger weiter transparent über Untersuchungsergebnisse zu informieren.

Gemeinden und Wasserwerke reagieren befremdet und enttäuscht

Und wie reagieren die betroffenen Stellen in den Gemeinden auf die Aufhebung des Grenzwerts und das Ende der Untersuchungspflicht? Bisher sind beim Kanton rund fünf Rückmeldungen von Gemeindebehörden oder Wasserwerken eingegangen. «Diese zeigten sich befremdet und teilweise enttäuscht über die veränderte Beurteilung der Chlorothalonil-Abbauprodukte», teilt Irina Nüesch auf Anfrage mit.

Nach den bisherigen Mitteilungen geht das kantonale Amt für Verbraucherschutz davon aus, «dass die periodischen Probennahmen mehrheitlich weitergeführt werden». Möglicherweise werde aber das Messintervall verlängert, das Trinkwasser also zum Beispiel nur noch einmal pro Jahr auf Chlorothalonil-Abbauprodukte untersucht.

Massnahmen für besseres Trinkwasser werden dennoch weitergeführt

Wegen der Chlorothalonil-Diskussion haben laut Nüesch mehrere Gemeinden bereits Massnahmen zur Verbesserung der Qualität des abgegebenen Trinkwassers umgesetzt. Wasserfassungen mit erhöhten Rückständen werden nur noch reduziert oder gar nicht mehr für die Trinkwasserversorgung genutzt, wenn der Wasserbedarf auch ohne diese Fassungen gedeckt werden kann.

Die Trinkwasser-Spezialistin hält es für unwahrscheinlich, dass diese Massnahmen nach der Aufhebung des Grenzwerts umgehend rückgängig gemacht werden. Ein Beispiel dafür ist Obersiggenthal, dort wird Wasser aus einer Quelle, das stark mit Chlorothalonil belastet ist, nicht für die Trinkwasserversorgung verwendet, sondern in einen Bach abgeleitet. Dazu wäre die Gemeinde im Prinzip nicht verpflichtet, sagte Urs Meier von der lokalen Wasserversorgung, man wolle aber auf Nummer Sicher gehen.

Bei hohem Bedarf könnten auch belastete Fassungen wieder genutzt werden

Dies ist angesichts hoher Grundwasserpegel derzeit möglich, doch Irina Nüesch vom Amt für Verbraucherschutz warnt: «Falls es aber eine längere Trockenperiode gibt und anhaltende hochsommerliche Hitzeperioden mit entsprechend grossem Trinkwasserbedarf, dann könnten Gemeinden vermehrt solche belasteten Fassungen reaktivieren und wieder in die Versorgung einspeisen.» Bis zum gerichtlichen Hauptentscheid im laufenden Beschwerdeverfahren von Syngenta wäre dies zulässig.

Konsumentinnen und Konsumenten, die weiterhin ohne schlechtes Gefühl ihr Hahnenburger trinken wollen, müssen sich selber über die Qualität des Trinkwassers in ihrer Gemeinde informieren. Angaben zur Rückstandssituation und zu den Entscheiden ihrer Wasserversorgung erhalten sie laut Nüesch «im Rahmen der periodischen umfassenden Information über die Trinkwasserqualität oder bei der zuständigen kommunalen Stelle». In der Regel sind solche Anfragen an die Gemeindeverwaltung oder an den Brunnenmeister zu richten.