Transportunternehmer Hans-Jörg Bertschi: «Ich würde mich sofort mit Sputnik impfen lassen»

Zur Person

Hans-Jörg Bertschi stieg nach seinem Studium der Volks- und Betriebswirtschaft 1987 in die von seinem Vater Hans 1956 mitbegründete Transportfirma Bertschi AG ein. 1994 übernahm Hans-Jörg Bertschi die Leitung der Bertschi Gruppe. Seit 2018 ist der heute 63-Jährige Verwaltungsratspräsident des Familienunternehmens.

Der Wärmescanner zeigt 36,5 Grad Celsius an. Eine weibliche Computerstimme bestätigt: «normale Temperatur.» Das Licht auf dem Bildschirm leuchtet grün auf. Ich darf eintreten. Und da ist auch schon Hans-Jörg Bertschi. Der 63-jährige Patron der Bertschi Gruppe führt mich durch den komplett erneuerten Hauptsitz in Dürrenäsch, wo 34 Sprachen gesprochen werden. Lichtdurchflutete Grossraubüros, ein Personalrestaurant mit Sonnenterrasse, Ladestationen für Elektroautos und E-Bikes. Der Unternehmer, der an vorderster Front gegen das EU-Rahmenabkommen antritt, will es seinen Angestellten aus aller Welt an nichts fehlen lassen.

Sie führen ein globales Unternehmen und gleichzeitig schreiben Sie auf Twitter täglich gegen das Rahmenabkommen an. Woher nehmen Sie die Zeit?

Hans-Jörg Bertschi: Ich mache das impulsiv, zum Beispiel beim Zmorge, was meine Frau nicht sonderlich freut (lacht). Oder während einer Videokonferenz, wenn die gerade mal nicht so interessant ist. Man hat schon mehr Zeit. Vorher war ich jede zweite Woche im Ausland, alle sechs Wochen interkontinental. Im Juni plane ich nun meine erste Asienreise seit Ausbruch der Pandemie.

Vorher wollen Sie noch das Rahmenabkommen mit der EU bodigen. Was treibt Sie an?

Ich möchte einfach die Sicht von Unternehmern einbringen, die nicht nur ans nächste Quartal denken. Als ich mich mit ein paar anderen Unternehmern zusammengesetzt und das Abkommen näher angeschaut habe, sind wir erschrocken. Da haben wir beschlossen, uns mit dem Komitee «autonomiesuisse» zu engagieren.

Was hat Sie erschreckt?

Die Einseitigkeit des Abkommens. Es gibt fast nur Verpflichtungen für die Schweiz, fast keine für die Gegenseite. Ein so einseitiges Abkommen würde man im eigenen Geschäft nie unterzeichnen.

Was stört Sie konkret am meisten?

Der Europäische Gerichtshof als Gericht der Gegenpartei in wichtigen Fragen. Zweitens macht uns grosse Mühe, dass die EU das Freihandelsabkommen reingepackt hat. Wegen der Guillotineklausel könnte die Schweiz plötzlich mit nichts dastehen bei einem Konflikt, ohne Bilaterale ohne Freihandelsvertrag. Und drittens wird die direkte Demokratie unterlaufen. Gewisse Volksinitiativen wie etwa die Konzernverantwortungsinitiative oder seinerzeit die Alpeninitiative wären gefährdet. Ich persönlich lehnte diese ab, aber solche Debatten beleben die Demokratie.

Argumentieren Sie jetzt als Bürger oder als Unternehmer?

Ich bin beides. Als Unternehmer sehe ich vor allem grosse Risiken, dass die Schweiz langfristig ihre herausragende weltweite Wettbewerbsposition verliert.

Ist es nicht umgekehrt? Befürworter warnen, dass die Schweiz lang- fristig benachteiligt wäre, wenn der Vertrag mit der EU scheitert.

Die Schweiz ist für die EU ein lukrativer Markt. Der Handelsbilanzüberschuss der EU mit der Schweiz beträgt 20 Milliarden Franken. Die EU profitiert mindestens soviel von einer guten Beziehung wie wir.

Das setzt voraus, dass die Bilateralen bleiben.

Die bleiben auch. Unser Unternehmen ist selbst stark in der Logistik zwischen EU und Grossbritannien tätig. Da gibt es Friktionen wegen des Brexits, klar. Aber die deutsche Industrie setzt sich ein, dass sie weiter problemlos nach England liefern kann. Auch beim Export von Medizinaltechnik wehren sich deutsche Firmen, dass sie weiter frei in die Schweiz liefern können.

Was würde sich für die Bertschi Gruppe konkret verändern mit diesem Rahmenabkommen?

In den nächsten zehn Jahren kaum viel. Aber mir gefällt die heutige Schweiz besser: weltoffen, innovativ und wir können Löhne zahlen, die 20 bis 40 Prozent höher sind als in den Nachbarländern. Das wäre nicht mehr möglich, wenn wir uns institutionell so eng an die EU binden würden.

Würden Sie gleich reden mit einer Firma, die abhängiger vom EU-Markt ist?

Natürlich wächst auch bei uns das aussereuropäische Geschäft. Aber zwei Drittel unseres Umsatzes sind immer noch in der EU. Gesamtschweizerisch gehen aber bereits 60 Prozent der Exporte in Länder ausserhalb der EU, stark wachsend.

Das ist noch kein Widerspruch zu einer engeren Beziehung zur EU.

Die EU neigt zu Protektionismus. Wir aber wollen weltoffen und autonom handeln können. Allein durch die Globalisierung hat unsere Firma seit 2012 250 neue Arbeitsplätze im Aargau geschaffen, schwergewichtig im globalen Transport-Management und in der IT. Es war nicht selbstverständlich, dass wir für das neue weltweite Geschäft den Hauptsitz in der Schweiz wählen. Rotterdam und Singapur waren mit im Rennen. Es gab lange Debatten, auch ich persönlich war nicht sicher.

Warum haben Sie sich für Dürrenäsch entschieden?

Schliesslich wegen der Integration mit dem Europa-Geschäft und wegen der Kultur. Es war ein richtiger Entscheid. Heute werden 34 Sprachen hier in Dürrenäsch gesprochen von Mitarbeitern aus der ganzen Welt, die direkt Kontakt mit Kunden in China, Indonesien, Korea, etc. haben. Wir haben viele Junge rekrutiert, die in der Schweiz lebten, wenig Deutsch konnten, aber sehr gut ausgebildet sind. Das hat unsere Firma extrem bereichert.

Apropos gute Ausbildung: Ist nicht auch das ein Grund für eine enge Bindung an die EU? Die Schweizer Wissenschaft droht ohne Abkommen den Anschluss an die EU-Forschungsprogramme zu verlieren.

Das glaube ich nicht. Zudem ist es auch hier die falsche Strategie, alles auf die EU zu setzen. In der neusten Liste der Top 50 Universitäten der Welt schafft es keine aus der EU unter die ersten 40. Dafür sind gleich fünf aus England und zwei aus der Schweiz in den Top 25. Wir brauchen auch hier weltoffene Lösungen. Sie sind parteilos.

Unterscheiden Sie sich in der EU-Frage aber überhaupt von der Fundamentalopposition einer SVP?

Ja, wir sind für ein konstruktives Verhältnis zur EU, wir argumentieren nicht ideologisch. Wir anerkennen auch, dass eine gewisse Übernahme von EU-Recht nötig ist.

Bei der Begrenzungsinitiative haben Sie sich bedeckt gehalten. Im Nachhinein können Sie es ja sagen: Wie haben Sie abgestimmt?

Ich habe Nein gestimmt. Ich bin für die Personenfreizügigkeit.

Zum anderen Dauerthema: Wie erleben Sie als globales Unternehmen die Pandemie?

Wir haben den Ausbruch in China hautnah miterlebt. Alle unsere Mitarbeiter dort mussten sofort ins Homeoffice. Ich hatte aber nicht gedacht, dass das auf die ganze Welt überschwappt. Es gab ja zuvor Pandemien in Asien, die lokal blieben.

Wie reagierten Sie in einer Firma mit Standorten in 38 Ländern?

Unser Vorteil war, dass wir schon vorher viel in die Digitalisierung investiert hatten. Wir haben früh gesehen, dass die Asiaten hier weiter sind als wir und viele Prozesse entsprechend digitalisiert.

Wie bewerten Sie die Bewältigung der Pandemie der Schweiz im internationalen Vergleich?

Schon eher im hinteren Mittelfeld. Der Anspruch der Schweiz müsste ein anderer sein.

Was läuft aus Ihrer Sicht gut, was weniger?

Die Arbeit des Bundesrates finde ich gut. Die zuweilen harte Kritik an ihm ist nicht angebracht. Gerade wenn man es etwa mit Deutschland vergleicht.

Trotzdem nur hinteres Mittelfeld?

Ja, die Impfstoffbeschaffung lief sehr schleppend. Zum Vergleich: Die Schweiz wollte nur wenig pro Impfung zahlen, Singapur bezahlte etwas mehr. Obwohl sie nach uns angefangen haben mit Impfen, ist schon ein deutlich grösserer Anteil der 5,7 Millionen Menschen geimpft. Auch viele unserer Mitarbeiter dort. Unter dem Strich kommt es die Schweiz teurer, dass sie nicht bereit war, mehr für Impfdosen zu zahlen.

Sie setzen sich dafür ein, dass Firmen im Kanton Aargau ihre Mitarbeitenden selbst impfen können. Ist das nicht Sache des Kantons?

Der Kanton macht seine Sache gut. Aber es braucht niederschwellige Angebote, um die Impfquote zu erhöhen. Firmen sind dafür geeignet. Wir sind vorbereitet, Impfungen durchzuführen.

Impfchef Andreas Obrecht meldete aber Vorbehalte an.

Das haben wir auch gehört, aber wir sind über die Aargauische Industrie- und Handelskammer in Gesprächen und zuversichtlich, bis Ende April eine Lösung zu haben. In England impfen nicht nur Firmen, sondern jetzt auch Shoppingcenter. Die Einsicht, dass es breite Angebote braucht, setzt sich auch bei uns durch.

Sie sind 63 Jahre alt und deshalb noch nicht geimpft, oder?

Nein, aber ich habe mich schon im Januar angemeldet.

Wenn Sie in der eigenen Firma impfen könnten, brauchen Sie den Termin beim Kanton ja nicht mehr.

(Lacht) Schauen wir, wer schneller ist.

Sie haben auch in Russland Niederlassungen. Würden Sie sich mit Sputnik impfen lassen?

Sofort. Ich habe mit Yves Rossier gesprochen, der bis Ende Jahr Botschafter in Russland war. Er hat sich dort impfen lassen. Ich hätte auch Vertrauen und würde mich mit Sputnik impfen.

Die grösste Investition Ihrer Firmengeschichte tätigen Sie zur Zeit in China mit einem Logistikzentrum in Shanghai. Schrecken Sie die Schattenseiten des Landes nicht ab?

Das war kein einfacher Entscheid. Die Nachfrage Chinas nach chemischen Produkten macht die Hälfte des Weltmarkts aus. Wir können auf die Dauer nur überleben, wenn wir dort auch präsent sind.

Im Gegensatz zur EU teilen wir mit der Diktatur China kaum gleiche Werte. Ausländische Firmen sind immer wieder mit Betriebsspionage und Druckversuchen konfrontiert. Macht Ihnen das keine Sorgen?

Wir sind ein kleiner Fisch dort. Und wir haben weitgehende Massnahmen getroffen, um Risiken zu reduzieren. Die IT etwa wird völlig abgekoppelt.

Wie beurteilen Sie die halbwegs kritische Positionierung von Aussenminister Ignazio Cassis gegenüber China?

Ich fand es richtig, dass die Schweiz nicht einfach schweigt und auch Menschenrechte anspricht.

Wie erleben Sie Ihre chinesischen Mitarbeiter in dieser Auseinandersetzung?

Wenn ich in China bin, gehe ich oft abends essen mit ihnen. Es zeigt sich jedes Mal, wie unterschiedlich die Mentalität ist.

Erzählen Sie uns ein Beispiel?

Ich kenne viele Mitarbeiter in China nun schon seit Jahren. Und sie verteidigen etwa auch nach einem gemütlichen Abend überzeugt ihr soziales Kontrollsystem. Bei uns wäre es unvorstellbar, Leute zu filmen und sozial zu benachteiligen, wenn sie nicht korrekt über den Fussgängerstreifen gehen. Aber die Chinesen sagen: Wir brauchen eine gewisse Ordnung in China, das geprägt ist von Kaiserreichen, die auseinanderfielen, Hungersnöten, Bürgerkrieg. Ich habe mir abgewöhnt, alle unsere Massstäbe anzuwenden bei meinen chinesischen Kollegen. Aber einverstanden muss ich deshalb nicht sein.

Kann man ein so globales, wachsendes Unternehmen noch lange als Familienunternehmen führen?

Ja. Wichtig ist, dass die Übergabe an die nächste Generation gut und frühzeitig aufgegleist wird. Meine drei Schwestern, zwei Brüder und ich haben vor 13 Jahren eine Familienverfassung gemacht. Meine Schwester hat drei Söhne, die seit einigen Jahren in der Firma aktiv sind. Ebenso eine meiner drei Töchter. Wir sind gut aufgestellt für die nächste Generation.

Sie kommen nächstes Jahr offiziell ins Pensionsalter. Denken Sie schon ans Rentnerleben?

Noch nicht. So betreue ich auch das China-Projekt und führe eine weltweit tätige, mittelgrosse Speditionsfirma, die wir akquiriert haben und die nach der Reorganisation in die Gruppe unter der Leitung unseres CEO integriert werden soll. Beides spannende Tätigkeitsfelder für die nächsten Jahre. (lacht) Mit 70 will ich dann aber kürzer treten, spätestens.

Pionierunternehmen: von Dürrenäsch bis Shanghai

1956 gründete Hans Bertschi (der Vater von Hans-Jörg Bertschi) die Transportfirma in Dürrenäsch, die sich in den folgenden Jahrzehnten zu einem weltweit tätigen Logistik-Dienstleister entwickelte.

Die Bertschi AG gehört zu den Pionieren des kombinierten Verkehrs. 1964 konnte Hans Bertschi die SBB von den Vorteilen des Verlades von Lastwagen auf die Bahn überzeugen. Der erste Transport von Basel nach Lugano gilt als Geburtsstunde des alpenquerenden kombinierten Güterverkehrs. 1972 wurde in Wohlen das erste Terminal dieser Art für den Umschlag zwischen Schiene und Strasse gebaut.

Die Bertschi-Gruppe gehört zu einem führenden globalen Anbieter von Tankcontainerverkehren für die chemische Industrie. Bertschi beschäftigt rund 3100 Mitarbeitende in 38 Ländern. 1000 Lastwagen und 37 000 Container sind im Einsatz. Der Gesamtumsatz der Bertschi-Gruppe beträgt 900 Millionen Franken (2020). Hauptsitz ist Dürrenäsch im Kanton Aargau.