
Der Aargau wird älter – das sind die Folgen
Im Aargau leben bis in 30 Jahren rund 905 000 Menschen. Das ist fast ein Drittel mehr als heute. Davon geht der Kanton in seinem aktuellsten Bevölkerungsszenario aus. Dabei fällt insbesondere auf: Die Gesellschaft wird älter. Die Zahl der Menschen im Rentenalter wächst bis 2050 am stärksten, jene der Erwerbstätigen (20-64) am langsamsten. Innerhalb der Rentnergruppe sind es vor allem die über 79-Jährigen, die stark zulegen: Ihre Zahl ist in 30 Jahren mehr als drei Mal so gross wie heute. Die Zunahme erfolgt aber nicht überall im Aargau gleichmässig. Die Statistikerinnen und Statistiker erwarten besonders im Freiamt ein starkes Wachstum an Hochbetagten. Im bevölkerungsreichsten Bezirk Baden fällt es prozentual kleiner aus – aber auch hier ist fast eine Verdreifachung zu erwarten.
Die Lebenserwartung steigt und damit der Bedarf nach Alterswohnungen. Auch Betten in Pflegeheimen wird es mehr brauchen – allerdings nicht so viel mehr, wie man beim Blick auf die obenstehenden Zahlen erwarten würde. Denn die Betagten leben tendenziell weniger lange in Pflegeheimen. Die Gründe: Die Menschen können dank altersgerechter Wohnungen und ausgebauten Spitex-Leistungen länger zu Hause wohnen. Das entspricht einem Bedürfnis vieler Senioren. Ausserdem sind wir am Lebensende weniger lange pflegebedürftig, wie Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen.
In vielen Regionen im Aargau stehen heute mehr Pflegebetten leer als gewünscht. Gemäss Kanton wäre eine Auslastung zwischen 97 und 98 Prozent optimal. Derzeit liegt sie bei rund 94 Prozent. Deshalb bewilligen viele Gemeinden keine neuen Pflegeplätze. Gleichwohl arbeiten sie an der Zukunft der Alterspflege, denn sie sind dafür zuständig, dass das Angebot stimmt. Auf regionaler Ebene übernehmen im Aargau zwölf Regionalplanungsverbände (Repla) die Planung der Pflegeplätze. Diese Zeitung hat nachgefragt, welche Projekte im Aargau laufen, um der Alters-Entwicklung gerecht zu werden. Die daraus resultierende Zusammenstellung ist nicht vollständig. Es dürfte zum Beispiel mehr Projekte für Alterswohnungen geben als unten beschrieben. Sie entstehen oft durch private Initiative und sind in keinem zentralen Verzeichnis aufgeführt.
Zofingen Regio: Die Spitex übernimmt mehr Aufgaben
Zu den 746 Pflegebetten im Gebiet von Zofingen Regio werden in den nächsten Jahren keine dazukommen. Mit den bestehenden Betten könne das prognostizierte Wachstum aufgenommen werden, schreibt Zofingens Stadtammann Hans-Ruedi Hottiger. Letztes Jahr waren 98,3 Prozent aller Betten belegt – Spitzenwert im Aargau und leicht über dem Zielwert des Kantons (97 bis 98 Prozent).
Zofingen Regio setzt sich für eine stärkere Spitex ein. «Ihre Bedeutung wird weiter zunehmen», ist Hottiger überzeugt. Die Anforderungen an die Pflege würden steigen, weil die Gesellschaft altert, aber auch wegen immer früherer Spitalentlassungen und der Umsetzung des Grundsatzes «ambulant vor stationär». Künftig werde die Spitex auch jüngere Erkrankte unterstützen oder sterbende Menschen begleiten. Die Spitex Region Zofingen AG bietet ihre Dienstleistungen im Auftrag von Brittnau, Murgenthal, Oftringen, Rothrist, Strengelbach, Vordemwald und Zofingen an. Projekte für altersgerechte Wohnformen sind in der Region in den letzten Jahren mehrere realisiert worden – teils auf privater Ebene, teils durch die Gemeinden oder durch von ihnen kontrollierte Trägerschaften. Einige weitere solcher Vorhaben würden derzeit ausgeführt oder geplant. Die Arbeitsgruppe Pflegebereich von Zofingen Regio unterstützt ferner das Pilotprojekt «Ambulante flexible Pflegebetten in den Alterswohnungen» des Alterszentrums Lindenhof in Oftringen, bei dem ambulante Pflegebetten flexibel eingesetzt werden können.
Aarau Regio: Städtische Heime werden renoviert
In der Region Aarau stehen 979 Pflegebetten zur Verfügung, am zweitmeisten nach Baden. Mit 96 Prozent liegt der Auslastungsgrad nur knapp unter dem Zielwert des Kantons. Dennoch sieht der Kanton laut André Liniger, bis Ende des letzten Jahres Geschäftsstellenleiter von Aarau Regio, in den nächsten acht Jahren keinen Bedarf an zusätzlichen Pflegebetten. Den Gemeinden empfehle man darum, keine neuen Pflegeplätze zu bewilligen.
Dafür geht bei den bestehenden Plätzen etwas, insbesondere in der Stadt Aarau. Sie renoviert ihre Pflegeheime für an die 70 Millionen Franken. Mit dem Neubau der Alterssiedlung Herosé ab 2026 sollen dann alle städtischen Heime auf dem neuesten Stand sein.
Suhrental: Projekte sind noch nicht spruchreif
Im Einzugsgebiet der Repla Suhrental gibt es heute 154 Pflegebetten, die meisten davon in Schöftland (125). Die übrigen befinden sich in Schmiedrued-Walde (19) und Holziken (10). Das reiche derzeit für die Region, schreibt Repla-Geschäftsführerin Lis Lüthi. Der Verband berechnet jedes Jahr, wie viele Betten es in Zukunft braucht. Ausserdem findet ein regelmässiger Austausch mit Pflegeheimen, der Spitex, dem Kanton und dem Verband der aargauischen Spitäler, Kliniken und Pflegeinstitutionen statt.
Wie man auf die Zunahme von Über-80-Jährigen reagiert, schreibt Lüthi nicht. Man sei sich der Herausforderungen aber sehr bewusst. Visionen für die Zukunft seien vorhanden, konkrete Projekte, zum Beispiel bauliche, aber noch nicht spruchreif.
Repla-Geschäftsführerin Lis Lüthi hebt die Spitex Suhrental Plus als leistungsfähig hervor. Der Verein verzeichnete 2019 ein grosses Wachstum an erbrachten Pflegeleistungen, was allerdings höhere Kosten für die Gemeinden zur Folge hatte.
Die Alterskommission Schöftland engagiert sich stark für Seniorinnen und Senioren. Sie hat verschiedene Projekte ins Leben gerufen, unter anderem eine Quartierbegehung, ein Repair Café und das Plauderbänkli: Wer vor dem Haus eine Bank stehen hat, kann diese zur freien Benutzung, eben als Plauderbänkli, zur Verfügung stellen. Ausserdem gibt es verschiedene Angebote für Seniorinnen und Senioren in der Region – von der Pro Senectute bis zum Seniorenmittagstisch.
Frau Zweifel, Sie wollen gleich zu Beginn etwas loswerden.
«Wir beklagen uns über das Alter, anstatt dass wir uns freuen»
Christina Zweifel leitet die Fachstelle Alter und Familie des Kantons Aargau.
Über die demografische Alterung wird häufig als Problem berichtet. Dabei ist sie die grösste Errungenschaft der Menschheit. Wir haben es geschafft, viele Krankheiten zu heilen, an denen wir in den 1970ern noch gestorben sind. Wir beklagen uns aber über das Alter, anstatt dass wir uns darüber freuen. Wir sollten die Chancen sehen.
Welche sind das?
Zum Beispiel können die Grosseltern die Enkelkinder hüten und eine enge Beziehung aufbauen. Oder noch nie haben so viele Menschen Freiwilligenarbeit geleistet. Die Über-65-Jährigen arbeiten im Aargau schätzungsweise zwölf Millionen Stunden pro Jahr unentgeltlich. Das ist ein immenser Beitrag für die Gesellschaft. Ausserdem bezahlen sie Steuern, und zwar nicht zu knapp. Es ist zu kurz gegriffen, ältere Menschen nur als Kostenpunkt zu sehen.
Von betagten, pflegebedürftigen Menschen hört man zuweilen, dass das Alter eine Bürde sei und sie lieber sterben wollten.
Sterben ist meist ein längerer Prozess, wenn die Todesursache nicht ein Unfall ist. Er ist in keinem Alter angenehm. Die Leute sind heute aber oft nicht mehr über eine lange Dauer pflegebedürftig. Gemäss Bundesamt für Statistik nehmen die behinderungsfreien Jahre sogar zu.
Wir leben länger, leiden am Schluss aber nicht länger?
Genau. Die gesunden Jahre nehmen zu, während die Jahre mit Pflegebedürftigkeit am Lebensende leicht abnehmen.
Welche Alters-Themen beschäftigen die Menschen am meisten?
Wohnen im Alter ist aktuell das grösste Thema. An Veranstaltungen zu Wohnen im Alter haben wir deutlich mehr Publikum als bei anderen Themen, zum Beispiel bei Demenz, die auch ein grosses Thema ist. Interessant ist, dass es nicht nur um die Wohnungen geht, sondern um die Infrastrukturen in den Gemeinden: Wo und wie kann ich einkaufen gehen? Wo gibt es kulturelle Angebote? Wo ist der nächste Arzt? Und so weiter.
Wo steht der Aargau bezüglich Wohnen im Alter?
Von 97 Pflegeheimen im Kanton Aargau bieten rund 40 Pflegeheime selbständiges Wohnen mit Dienstleistungen an. Dazu kommen private und genossenschaftliche Angebote, die nicht statistisch erfasst werden. Wir sind auf einem guten Weg, haben aber noch Luft nach oben.
Was sind die Vorteile von altersgerechten Wohnungen?
Wenn ältere Menschen in altersgerechten Wohnungen leben, können sie länger zu Hause bleiben. Das ist ein Bedürfnis der Seniorinnen und Senioren. Es braucht aber nicht in jeder Gemeinde Alterswohnungen, denn diese müssen in eine passende Infrastruktur eingebettet sein.
Welche Probleme gilt es zu lösen?
Auf gesellschaftlicher Ebene kommen Veränderungen auf uns zu. Die Familien werden kleiner, es gibt viele Scheidungen, viele Kinder leben nicht mehr in der Nähe ihrer Eltern und die Erwerbstätigkeit, insbesondere der Frauen, nimmt zu. In Zukunft können die Angehörigen ihren älteren Verwandten die benötigte Unterstützung in Form von Betreuung, Pflege und Organisation im Haushalt nicht mehr bieten. Das bedeutet, dass diese Aufgaben ein grosses Thema sein werden.
Gibt es weitere Herausforderungen?
Das andere Thema, das in meinen Augen sehr wichtig ist, ist die Information der Bevölkerung. In jeder Gemeinde im Kanton Aargau gibt es eine grosse Anzahl an Angeboten und Anbietern von Dienstleistungen für ältere Menschen: Vom Fahrdienst bis zu verschiedenen Entlastungsangeboten. Es ist für ältere Menschen und ihre Angehörigen zum Teil schwierig, sich in dieser Vielfalt an Angeboten zurechtzufinden. Um die Gemeinden bei diesen Kommunikationsaufgaben zu unterstützen, bietet die Fachstelle Alter und Familie des Kantons die Broschüre «Älter werden in …» an. Jede Gemeinde kann sie auf ihre Bedürfnisse anpassen und veröffentlichen. So erhalten die Seniorinnen und Senioren einen Überblick über die existierenden Dienstleistungen in der Gemeinde. (mwa)