
Wie stark belasten Flüchtlinge die Aargauer Gemeinden, wenn der Bund nicht mehr bezahlt?

In den Jahren 2014 bis 2016 strömten viele Flüchtlinge nach Europa. Knapp 40’000 fanden 2015 den Weg in die Schweiz. Seither sind die Zahlen rückläufig. Letztes Jahr ersuchten 11’000 Menschen in der Schweiz um Asyl. Doch da viele schlecht oder nicht ausgebildet sind, wuchs in den Aargauer Gemeinden die Angst vor kommenden Sozialhilfekosten. Denn der Bund zahlt zwar für vorläufig Aufgenommene (längstens sieben Jahre) und für anerkannte Flüchtlinge (längstens fünf Jahre) eine Pauschale. Doch danach sind im Aargau die Gemeinden für Personen zuständig, die seither finanziell nicht oder nicht ganz auf eigenen Beinen stehen können.
Auch im Kanton Luzern seien die Gemeinden besorgt, schreibt die «Luzerner Zeitung». Hinzu kommt ja noch die Coronakrise. Der Kanton Luzern und die Gemeinden haben deshalb in einer Ecoplan-Studie untersuchen lassen, mit welcher finanziellen Belastung für die Gemeinden durch das Asyl- und Flüchtlingswesen zu rechnen ist.
Die Studie besagt, es hänge nicht von der Anzahl Flüchtlinge ab, ob die Sozialhilfekosten steigen. Entscheidend sei, wie gut die berufliche Integration gelingt. Beim Kanton Luzern geht man laut «Luzerner Zeitung» davon aus, «dass rund 40 Prozent der Flüchtlinge auch zehn Jahre nach Ankunft in unserem Land mindestens teilweise von Sozialhilfe abhängig sein werden». Wobei anzufügen ist, dass in Luzern (wie im Aargau auch) diese Kosten durch einen Soziallastenausgleich innerhalb des kantonalen Finanzausgleichs geglättet werden.
Kantonaler Sozialdienst: Im Asylbereich ändert sich ständig viel
Luzern ist mit dem Aargau durchaus vergleichbar. Muss man hier mit ähnlichen Zahlen rechnen? Stefan Ziegler, Leiter Kantonaler Sozialdienst, macht keine Prognose:
«Dafür muss man bestimmte Annahmen treffen. Doch im Asylbereich ändert sich ständig so viel, dass die Annahmen im Nachhinein meist nicht zutreffen.»
Das gelte unter Coronabedingungen noch viel mehr als bisher. Ziegler beobachtet, dass Kantone mit vielen niederschwelligen Arbeitsplätzen wie Graubünden (grosser Tourismussektor) Flüchtlinge vor Corona rascher integrieren konnten: «Sollten in solchen Kantonen, aber auch bei uns, wegen Corona viele niederschwellige Arbeitsplätze vernichtet werden, könnte dies die bestehende Problematik noch akzentuieren.»
Derzeit 2164 anerkannte und vorläufig aufgenommene Flüchtlinge
Per 1. Februar 2020 befanden sich laut Ziegler 2164 anerkannte und vorläufig aufgenommene Flüchtlinge in der finanziellen Zuständigkeit des Kantons. Darin sind auch Personen enthalten, die wirtschaftlich ganz oder teilweise selbstständig sind und keine oder nur teilweise Sozialhilfe beziehen. Die Grafik zeigt, in welchem Jahr für wie viele Personen (mit Sicht aus Stand heute) die Zahlungen des Bundes wegfallen werden.
Kaum noch Primärgesuche von Eritreern, dafür Familiennachzug
Dazu müssen Personen gerechnet werden, die zurzeit im Asylprozess stehen und einen positiven Entscheid erhalten werden sowie Geburten und Familiennachzüge. Sozialdienst-Chef Ziegler:
«Es gibt kaum noch Primärgesuche von Eritreern, die in die Schweiz fliehen, sondern mehrheitlich Sekundärgesuche für hier geborene Kinder eritreischer Familien und für Familiennachzug.»
Abgezogen werden müssen Personen, die wirtschaftlich selbstständig werden und keine Sozialhilfe mehr beziehen, Personen, die wegziehen oder sterben.
Sozialhilfe für Flüchtlinge: So ists heute geregelt
Der Bund vergütet den Kantonen die Kosten für die Sozialhilfe für anerkannte und vorläufig aufgenommene Flüchtlinge sowie für vorläufig aufgenommene Ausländerinnen und Ausländer in Form einer Pauschale und zeitlich befristet. Der Kanton vergütet den Gemeinden die Sozialhilfekosten für anerkannte Flüchtlinge (Ausweis B) längstens fünf Jahre ab Einreichung des Asylgesuchs. Bei vorläufig anerkannten Flüchtlingen (Ausweis F) gilt dieser Kostenersatz längstens sieben Jahre. Danach müssen die Wohnsitz-Gemeinden für die Kosten aufkommen. Für vorläufig aufgenommene Ausländerinnen und Ausländer (Ausweis F) ist der Kanton finanziell zeitlich unbeschränkt zuständig. (az)
Aarau: Sozialhilfeausgaben sind konstant
Erwartet man in den Gemeinden ähnliche Kostensteigerungen wie in Luzern? In der Stadt Aarau ist man diesbezüglich relativ entspannt. Laut der zuständigen Stadträtin Angelica Cavegn Leitner «waren die Sozialhilfeausgaben für vorläufig aufgenommene Personen und für anerkannte Flüchtlinge in den letzten zwei Jahren sehr konstant».
Die Luzerner Studie beunruhigt Cavegn Leitner nicht: «Unsere Aufgabe ist es, die Flüchtlinge zu integrieren, von ihnen aber auch zu verlangen, dass sie sich integrieren lassen.»
Bei den einzelnen Personen, die der Stadt zugewiesen werden, komme es natürlich sehr auf die Voraussetzungen an, die sie mitbringen. In enger Zusammenarbeit mit dem Kanton fördere man sie bestmöglich in Sprache und Bildung, um sie integrieren zu können. Die regionale Koordinationsstelle für Freiwilligenarbeit im Asylbereich und die Fachstelle Mobile Integration Region Aarau seien in der glücklichen Lage, auf ein grosses Netzwerk von Freiwilligen abstützen zu können, mit denen die Flüchtlinge gemeinsam gefördert werden. Die Bevölkerung trage dies mit.
Die Gemeinden Aarau, Buchs, Hirschthal, Muhen, Suhr und Unterentfelden bilden die Trägerschaft dieser Fachstellen, gemeinsam mit dem Kanton. Gewiss gebe es Flüchtlinge, die man nicht in den Arbeitsmarkt vermitteln kann, so Cavegn Leitner:
«Wir arbeiten intensiv mit ihnen, damit dies doch noch gelingt.»
Sehr hilfreich sei, dass sie bei Bedarf auf Schlüsselpersonen zurückgreifen können, die die jeweilige Landessprache beherrschen. Ob und wie sich die Sozialhilfekosten in diesem Bereich verändern, hänge auch sehr stark davon ab, ob Personen zu- oder wegzügeln. 2020 sind 59 Flüchtlinge von Aarau weg- und 90 zugezogen.
Wohlen: Rund die Hälfte dürfte Unterstützung benötigen
Auch Magnus Hoffmann, Leiter Soziale Dienste in Wohlen, betont, es komme sehr auf die jeweilige Vor-, Schulbildung und Sprachkenntnisse an: «Personen mit einem bildungsfernen Hintergrund haben es viel schwerer. Andere sind ausgezeichnet unterwegs, und deren Kinder sind je nach Alter auch schon in einer guten Ausbildung.»
Auch in Wohlen tue man viel, sie bestmöglich zu fördern und zu unterstützen: «Wer von ihnen Sozialhilfe benötigt, wird von uns gleich behandelt wie alle anderen, die entsprechende Unterstützung benötigen. Ich glaube aber schon, dass schätzungsweise sicherlich rund die Hälfte der vorläufig aufgenommenen und anerkannten Flüchtlinge ganz oder teilweise Sozialhilfe benötigen, sobald es für sie keine Zahlungen des Bundes mehr gibt. Unterstützung benötigen insbesondere Familien mit mehreren Kindern. Das ist aber auch bei einheimischen Familien oft der Fall.» Sollten so viele Unterstützung benötigen, würde das Hoffmann «sehr beunruhigen, denn es würde zeigen, dass wir es nicht geschafft haben, sie zu integrieren».
Was die Integrationsagenda bringt, vermag Hoffmann noch nicht zu sagen, da sei man noch zu wenig lange unterwegs. Es sei schwierig zu sagen, ob die Arbeitsmarktchancen für schlecht Qualifizierte in Coronazeiten sinken, so der Sozialamtsvorsteher von Wohlen. Er weiss aber von einigen, die sogar jetzt eine Stelle finden. Das könnte womöglich auf in der Region angesiedelte Onlinehändler zurückzuführen sein, die in Coronazeiten einen Boom erleben.
Aarburg: Der grosse Kostenschub kam schon 2017/18
In Aarburg hat der grosse Kostenschub bei der Sozialhilfe für Flüchtlinge schon in den Jahren 2017/18 stattgefunden. Im Städtchen leben mittlerweile 400 Eritreer, von denen die meisten schon 2012/13 in die Schweiz gekommen sind. Die Unterstützung des Bundes für sie lief in Aarburg 2017/18 zumeist aus. Gemäss der SVP-Nationalrätin und Sozialvorsteherin von Aarburg, Martina Bircher, «schnellten daraufhin die Sozialhilfekosten um 600’000 Franken nach oben». Einen weiteren grossen Kostenschub erwartet Martina Bircher nicht mehr:
«Wir haben genau auf dem Radar, bei wem die Bundesunterstützung wann aufhört. In den nächsten drei Jahren werden weitere 25 Personen die Bundesunterstützung verlieren.»
Als Bircher 2014 in Aarburg Sozialvorsteherin wurde, benötigten 95 Prozent der Eritreer Sozialhilfe, inzwischen seien es noch 85 Prozent. Dazu zählen natürlich auch solche, die einen Job haben, bei denen der Lohn für eine oft kinderreiche Familie aber nicht reicht. Bessere Perspektiven haben junge Eritreer, die hier zur Schule gingen beziehungsweise gehen, und jetzt eine Ausbildung machen können, sagt Bircher.
Sozialhilfequote von 4,9 Prozent bereitet auch angesichts von Corona Sorgen
Insgesamt beziehen derzeit in Aarburg 400 Personen – Flüchtlinge, Schweizer, Ausländer – Sozialhilfe. Dank der Arbeitsmarkt-Integrationsstrategie habe man die Sozialhilfekosten 2019/20 um eine Million Franken senken können, sagt Bircher. In Aarburg ist die Sozialhilfequote zwischen 2017 und 2019 von 6,1 auf immer noch weit überdurchschnittlich hohe 4,9 Prozent gesunken. So blickt Bircher sorgenvoll in die Zukunft. Denn viele Menschen verlieren derzeit und in naher Zukunft wegen Corona ihren Arbeitsplatz: «Wer dann bis in zwei Jahren keinen neuen Job findet, wird ausgesteuert und gerät auch in die Sozialhilfe», befürchtet Bircher.
Forderung: Bund soll zehn Jahre lang bezahlen
Bircher schaut ein bisschen neidisch nach Luzern. Dort übernimmt der Kanton (so wie auch der Kanton Zürich) die Kosten für anerkannte Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene weitere fünf bzw. drei Jahre, sodass die Gemeinden erst nach zehn Jahren finanziell in die Pflicht genommen werden. Der Aargau macht das nicht.
Birchers Ziel ist allerdings ein anderes: nämlich dass der Bund zehn Jahre lang zahlt. Das verlangt sie (wie früher schon Philipp Müller) in einem Vorstoss. Der Bundesrat lehnt ihn ab, im Nationalrat ist er noch nicht traktandiert. Bircher hofft, dass das Parlament ihr folgt. Einen Erfolg habe sie schon erzielt: «Der Bund wollte vorläufig Aufgenommene mit Blick auf die Integrationsagenda nur noch fünf statt sieben Jahre unterstützen, um den Druck auf die Gemeinden zu erhöhen. Aufgrund meines breit abgestützten Vorstosses für eine Erhöhung auf zehn Jahre hat er diese Absicht wieder fallen lassen.»
Sozialhilfe für Flüchtlinge: So ists heute geregelt
Der Bund vergütet den Kantonen die Kosten für die Sozialhilfe für anerkannte und vorläufig aufgenommene Flüchtlinge sowie für vorläufig aufgenommene Ausländerinnen und Ausländer in Form einer Pauschale und zeitlich befristet. Der Kanton vergütet den Gemeinden die Sozialhilfekosten für anerkannte Flüchtlinge (Ausweis B) längstens fünf Jahre ab Einreichung des Asylgesuchs. Bei vorläufig anerkannten Flüchtlingen (Ausweis F) gilt dieser Kostenersatz längstens sieben Jahre. Danach müssen die Wohnsitz-Gemeinden für die Kosten aufkommen. Für vorläufig aufgenommene Ausländerinnen und Ausländer (Ausweis F) ist der Kanton finanziell zeitlich unbeschränkt zuständig. (az)