
Ab Samstag sind im Aargau die Beizen wohl zu – warum diese Kehrtwende, Herr Gallati?
Vor neun Tagen sagten Sie noch, wir seien nicht in einer Notsituation. Heute klingt es anders. Warum diese Kehrtwende?
Jean-Pierre Gallati: Ich habe am 7. Dezember gesagt, wir seien in keiner dringenden Notsituation, in der es sofort, also am gleichen Tag, neue Massnahmen brauche. Weiter habe ich damals gesagt, der Regierungsrat werde zwei Tage später Massnahmen beschliessen, um sich auch mit den Nachbarkantonen und dem Bund abzustimmen. Dann hat der Bundesrat am Dienstag – einen Tag später – angekündigt, er wolle die Massnahmen am Freitag verschärfen. Und diese verschärften Massnahmen hat der Aargau befürwortet und übernommen.
Sie haben die Lage nicht unterschätzt?
Nein, ich habe den Ernst der Lage gesehen und immerhin erreicht, dass unser Kanton nicht überstürzt Massnahmen ergreift, welche dann wenige Tage später vom Bundesrat «übersteuert» worden wären. Viele Kantone haben das erlebt und wurden düpiert, indem sie ihre eigenen Beschlüsse wieder aufheben oder korrigieren mussten.
Würden Sie trotzdem anders handeln, wenn Sie noch einmal zurückkönnten?
Der rasche Anstieg der Zahlen in den letzten Tagen. Nicht nur im Aargau, sondern in der ganzen Deutschschweiz. Bis jetzt funktionieren die Spitäler im Aargau, wenn auch unter grossen Anstrengungen des ganzen Personals und mit Verschiebungen von planbaren Eingriffen. Ich bin optimistisch, dass wir die Kapazitäten nicht überschreiten werden. Aber die Spitäler kommen – auch im Aargau – an ihre Grenzen. Hochrechnungen zeigen, dass das Gesundheitswesen im Januar überlastet ist, wenn es so weitergeht. Dann wären Spitäler nicht mehr in der Lage, Notfalleingriffe zu machen, und es müsste eine Triage stattfinden. Deshalb müssen wir die «Bremse jetzt anziehen».
Haben Sie die Hilferufe der Spitäler in den letzten Tagen aufgeschreckt?
Nein. Ich stütze mich auf die Rückmeldungen unserer eigenen Spitäler. Vor zehn Tagen meldeten sie noch, es sei alles im grünen Bereich. Inzwischen hat sich die Lage aber überall verschärft, und sie sagen, es werde schwierig, wenn die Zahlen weiter steigen. Das Problem sind nicht die Betten oder Beatmungsgeräte, sondern die Durchhaltefähigkeit der Mitarbeitenden, vor allem in der Pflege. Sie erbringen grosse Leistungen, sind aber verständlicherweise erschöpft und sehen kein Licht am Ende des Tunnels. Auch kommt es zu krankheitsbedingten Ausfällen. Dem Pflegepersonal und der Ärzteschaft danke ich für ihr grossartiges Engagement.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, um die personelle Situation an den Spitälern kurzfristig zu verbessern?
Abgesehen von spitalinternen und spitalübegreifenden Umdispositionen sowie dem Aufbieten von pensionierten Fachkräften ist das fast nicht möglich. Spezialisierte Pflegefachkräfte brauchen eine gute Ausbildung, jene auf der Intensivstation eine mehrjährige Zusatzausbildung. Mit einer Schnellbleiche funktioniert das nicht. Auch der Sanitätsdienst des Militärs kann nur bedingt helfen, weil die Armeeangehörigen mit Ausbildung im Pflegebereich schon in Spitalberufen arbeiten und nicht abgezogen werden können. Am besten entlasten wir die Spitäler, indem sich die ganze Bevölkerung an die Coronaspielregeln hält.
In der besonderen Lage müssen die Kantone nicht auf den Bundesrat warten. Warum beschliesst der Kanton Aargau nicht selbstständig Verschärfungen?
Wenn der Bundesrat am Freitag keine weiteren Massnahmen beschliesst, werde ich dem Regierungsrat Verschärfungen beantragen. Für mich ist klar: Am Freitag braucht es zusätzliche Massnahmen. Diese Meinung teilen übrigens die Gesundheitsdirektoren der Deutschschweizer Kantone. Es bringt nichts, wie der Bundesrat vorschlägt, erst am 28. Dezember über eine Verschärfung zu entscheiden. Die Grenzwerte für weitere Massnahmen nach dem Ampelsystem, das der Bund vorschlägt, werden in vielen Kantonen schon heute überschritten. Es ist nicht zu erwarten, dass diese Grenzwerte unterschritten werden.
Warum warten Sie bis am Freitag?
Aus dem gleichen Grund wie letzte Woche. Es wäre nicht sinnvoll, wenn der Kanton Aargau jetzt etwas beschliessen würde, das möglicherweise bereits am Freitag durch einen Bundesratsbeschluss überholt wäre. Das hat übrigens nichts mit «Trödel-Kanton» zu tun, wie der «Blick» immer wieder schrieb. Ich habe von Anfang an die Position vertreten, dass es für die Bevölkerung nicht hilfreich ist, wenn alle paar Tage andere Regeln gelten.
Schon immer Sache der Kantone war das Contact-Tracing. Wie sieht es an dieser Front aus?
Infizierte werden innert 24 Stunden benachrichtigt. Beim Verschicken der Quarantäneverfügungen sind wir aber im Rückstand. Mitte Oktober haben wir aktiv informiert, dass das Contact-Tracing wie in allen anderen Kantonen überlastet ist und es länger dauert, bis man kontaktiert wird.
Die AZ weiss von mehreren Fällen, in denen enge Kontaktpersonen von Infizierten die Quarantäneverfügung erst mehrere Wochen nach Ablauf der Quarantäne erhalten haben.
Das ist so. In diesen Fällen geht es nicht mehr um die Eindämmung der Pandemie, sondern nur noch um die Bestätigung für den Arbeitgeber.
Ist Contact-Tracing so überhaupt noch sinnvoll?
Das Bundesamt für Gesundheit ist der Meinung, das Contact-Tracing solle weiterbetrieben werden. Wie alle Kantone richten wir uns nach diesen Empfehlungen.
Wie möchten Sie verhindern, dass bei einer allfälligen dritten Welle das Contact-Tracing wieder ganz zusammenbricht?
Wir sind laufend am Aufstocken. Gerade haben wir die dritte Etage im ehemaligen Eniwa-Gebäude in Aarau bezogen, und bis Weihnachten werden 110 Mitarbeiter im Einsatz stehen. Aber irgendwann gelangt jedes Contact-Tracing an eine Kapazitätsgrenze.