
«Schlechte Führung und Prozesse»: Aargauer Zivilschützer kritisiert chaotische Zustände beim Contact Tracing
Seit der zweiten Novemberhälfte unterstützt der Zivilschutz das kantonale Contact Tracing. Beim Contact Tracing geht es darum, Personen, die sich mit dem Coronavirus angesteckt haben, zu informieren, deren engen Kontaktpersonen zu eruieren und unter Quarantäne zu stellen. So sollen Infektionsketten unterbrochen und die Ausbreitung des Virus gebremst werden.
Während der zweiten Welle ist das Contact Tracing schweizweit und auch im Aargau zusammengebrochen. Am Point de Presse am Montag sagte Kantonsärztin Yvonne Hummel, die Mitarbeitenden seien bei rund 300 Neuansteckungen jeden Tag weiterhin gefordert. Aber seit dem 13. November könnten in der Regel wieder alle positiv Getesteten innerhalb von 24 Stunden nach Erhalt des Laborresultats kontaktiert werden.
Ein Zivilschützer, der seit Anfang Dezember im Conti, der Kompetenz- und Koordinationsstelle für das Contact Tracing, im Einsatz ist, sagt hingegen: «Im Kanton Aargau hat das Contact Tracing seit Ende September nicht mehr funktioniert. Man ist bis heute nicht in der Lage die Kontakte der positiv getesteten Personen nachzuverfolgen. Man hat ein völlig falsches Verständnis davon, was Contact Tracing ist.»
Mindestens genau so wichtig, wie das Kontaktieren von Infizierten sei es, deren Kontaktpersonen zu identifizieren und unter Quarantäne zu stellen.
«Es ist zumutbar, dass infizierte Personen mithelfen»
Hummel bestätigt, dass das Contact Tracing bei der Kontaktaufnahme mit den engen Kontakten weiterhin auf die Mithilfe der infizierten Personen angewiesen sei. «Es ist zumutbar und trifft in den meisten Fälle auf Verständnis, dass die infizierten Personen mithelfen, die Infektionsketten durch schnelles Informieren ihrer Kontaktpersonen zu unterbrechen.» Auch Kontaktpersonen, die so ans Conti gemeldet würden, erhielten eine Quarantäneverfügung. «Das ist aus arbeitsrechtlicher Sicht wichtig und nötig», so Hummel.
Der Zivilschutz kümmere sich neben dem Kontaktieren von Infizierten Personen vor allem darum, Quarantäneverfügungen auszudrucken und diese in Couverts zu verpacken, erzählt der Zivilschützer. Dabei orientiere man sich an Kontaktlisten, die infizierte Personen erstellt hätten. Angefangen hätten sie mit Verfügungen von Ende September. Inzwischen seien sie im November angelangt. «Es ist eine rückwärtsgerichtete Tätigkeit», sagt er. Und weiter: «Wir kümmern uns mitten in der zweiten Welle nicht um die Eindämmung der Pandemie, indem wir Kontaktpersonen von aktuell infizierten Personen ausfindig machen und kontaktieren, sondern baden die Versäumnisse der letzten Monate aus.»
Möglicherweise erhielten sogar Personen eine Quarantäneverfügung, die gar nie wussten, dass sie in Quarantäne mussten. Auf der anderen Seite gebe es Leute, die sich aktiv beim Contact Tracing meldeten und sich erkundigten, wo ihre Verfügung bleibe. «Einige sind verzweifelt, weil ihr Arbeitgeber sagt, er halte den Lohn so lange zurück, bis sie die Verfügung vorweisen könnten.»
Mit der Digitalisierung harzt es, gearbeitet wird auf Papier
Die Gründe für das Chaos beim Contact Tracing sieht der Zivilschützer einerseits in der «schlechten Führung» und andererseits in den «unglaublich schlechten Prozessen». Der Aargau führe das Contact Tracing weiterhin in Papierform durch, erzählt er. «Für jede infizierte Person gibt es ein Dossier aus Papier. Es besteht aus einem Deckblatt mit Fallnummer, allen Angaben zur Person und dem Laborbericht.» Die Papiere wanderten von Mitarbeiter zu Mitarbeiterin und würden mit handschriftlichen Notizen ergänzt. «Das ist nicht nur ineffizient, sondern auch unverantwortlich in einer Pandemiesituation und nicht konform mit den Bestimmungen des Bundesamtes für Gesundheit», kritisiert er.
Kantonsärztin Yvonne Hummel hatte am Montag angekündigt, dass die Digitalisierung und Automatisierung der Prozesse vorangetrieben werde. Von Ende September bis Anfang November sei das Conti von 30 auf 70 Mitarbeitende ausgebaut worden. «In einer ersten Phase erfolgten organisatorische Anpassungen», sagt Hummel. Im weiteren Verlauf würden Prozessanpassungen sowie IT-Weiterentwicklung mit Automatisierungsmassnahmen folgen. «Das ist bei einem Organisationsaufwuchs üblich», sagt sie. Ziel sei es, zukünftig dieselben Dienstleistungen durchführen zu können wie vor dem Eintreten der zweiten Welle. Das heisst, nebst den infizierten Personen, sollen auch die engen Kontaktpersonen wieder begleitet werden.
«Die ruhigen Sommermonate wurden nicht optimal genutzt»
Romuald Brem ist Präsident des Aargauischen Zivilschutzverbandes. Er äussert sich weniger kritisch als der Zivilschützer zur aktuellen Situation beim Contact Tracing. Der Tenor der Rückmeldungen, die er von Zivilschützern erhalte, sei positiv. «Sie freuen sich, weil sie eine sinnvolle Arbeit übernehmen.» Negative Rückmeldungen beträfen vor allem die Logistik oder die Pausenräume. «Das Contact Tracing ist stark gewachsen, da sind die räumlichen Verhältnisse, zum Beispiel in Pausenräumen, noch nicht überall optimal.»
Brem räumt auch ein, dass eine stärkere Digitalisierung «extrem hilfreich» wäre. Er sagt: «Es ist sicher nicht optimal, dass auf Papier gearbeitet wird. Da wurden die ruhigen Sommermonate nicht optimal genutzt.»
Die Verantwortlichen hätten die Defizite bei der Digitalisierung und Automatisierung aber erkannt, sagt er.