
Nur 10 Mal setzten die Aargauer Polizisten in den letzten 20 Jahren ihre Waffen ein
Dass ein Polizist zur Waffe greift und einen Schuss abgibt, ist im Aargau sehr selten. In den letzten 20 Jahren kam dies nur zehn Mal vor, wie Bernhard Graser, Sprecher der Kantonspolizei, am Mittwoch sagte. Der Einsatz am Montag in Suhr, bei dem ein 68-jähriger Mann erschossen wurde, ist der einzige Fall, der tödlich endete. Gegen den Polizisten läuft ein Verfahren wegen vorsätzlicher Tötung. In vier früheren Fällen ist schon geklärt, ob der Griff zur Waffe verhältnismässig und rechtens war.
11. November 2008, Buchs: Schiesserei mit Waffennarr
Buchs, 11. November 2008
Nach einem Schusswechsel fand die Polizei im Haus eines Waffennarren zahlreiche Gewehre und Pistolen. © Kapo AG
Ein 50-jähriger Mann schoss im Keller und hinter seinem Haus an der Gysistrasse herum. Schon drei Jahre zuvor waren dem Mann alle Feuerwaffen abgenommen worden. Zudem wurde ihm gerichtlich verboten, jemals wieder Schiessgeräte zu besitzen. Mit einem Trick – der Waffennarr verkaufte sein Arsenal, ein Kollege gab ihm die Pistolen und Gewehre zurück – umging er diese Anordnung unbemerkt.
Nach den Schüssen im Keller und im Garten verschanzte sich der Buchser in seiner Wohnung. Einsatzkräfte der Kantonspolizei und der Sondereinheit Argus umstellten das Einfamilienhaus. Weil die Verhandlungen keinen Erfolg brachten, stürmte die Sondereinheit die Wohnung. Der Mann schoss auf die Polizisten, diese feuerten zurück, der Waffennarr wurde verletzt und festgenommen. In seinem Haus fand man etwa 20 Gewehre und Pistolen, eine Rohrbombe – und eine Liste mit 26 Namen von Behördenmitgliedern, die der Mann umbringen wollte.
Gegen die Polizisten wurde ermittelt
Der Waffennarr wurde unter anderem wegen mehrfacher Gefährdung des Lebens und strafbarer Vorbereitungshandlungen zu mehrfachem Mord zu neun Jahren Haft und einer vollzugsbegleitenden ambulanten Therapie verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte elf Jahre Haft und eine Verwahrung gefordert, der Verteidiger auf eine vierjährige Haftstrafe plädiert.
Gegen die zwei Polizisten, die auf den Mann geschossen hatten, wurde ermittelt. Doch die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren Anfang 2010 ein. Sie kam zum Schluss , dass eine Notwehrlage vorlag. Gegen diesen Entscheid legte der Anwalt des Waffennarren Beschwerde beim Aargauer Obergericht ein. Der Amokschütze war von zwei Kugeln getroffen worden, einmal im Gesicht, einmal in der Schulter. Seither sei er invalid und könne auch in der Strafanstalt Lenzburg nicht arbeiten, sagte sein Rechtsanwalt damals. Die Polizisten hätten seinen Mandanten regelrecht «zum Krüppel geschossen.» Im Juni 2010 entschied das Obergericht jedoch, die Staatsanwaltschaft habe mit der Einstellung des Verfahrens richtig gehandelt.
26. Mai 2009, Wohlen: «Argus» schiesst auf Mann
Wohlen, 26. Mai 2009
Die Sondereinheit Argus verletzte einen Mann schwer, dies löste einen Rechtsstreit aus, der fast zehn Jahre dauerte. © Alois Felber
Nach rund 90 Minuten stürmte die Sondereinheit Argus der Kantonspolizei eine Wohnung in Wohlen. Den Befehl gab ein heute 64-jähriger Polizeioffizier, der als Einsatzleiter vor Ort war. In der Wohnung war ein betrunkener und randalierender Mann. Seine Frau war mit dem Kind zu den Nachbarn geflüchtet. Von dort aus hatte sie die Polizei alarmiert. Der 30-jährige Serbe in der Wohnung drohte damit, sich mit dem Messer umzubringen oder vom Balkon zu springen.
Als die Polizei die Türe aufbrach und eindrang, fuchtelte der Mann mit einem Messer herum. Ein «Argus»-Mann schoss zweimal auf ihn. Die Kugeln trafen den Serben im Unterleib, er musste ins Spital. Der Mann verstarb im April 2015, sein Tod hat aber keinen Zusammenhang mit den Schussverletzungen.
Der Fall entwickelte sich zu einem langen Rechtsstreit. Im Mai 2019 fiel das letzte Urteil: Das Aargauer Obergericht sprach den Offizier auf Geheiss des Bundesgerichts wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung, Amtsmissbrauchs, Hausfriedensbruchs und Sachbeschädigung schuldig. Er wurde zu einer bedingten Geldstrafe von 48’600 Franken verurteilt. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb die Stürmung der Wohnung mit Schusswaffen und schweren Verletzungsfolgen die einzig mögliche Massnahme gewesen sein solle, hielt das Bundesgericht in seinem Urteil fest. Der Polizist, der geschossen hatte, wurde indes von den Vorwürfen der schweren Körperverletzung und der versuchten vorsätzlichen Tötung freigesprochen.
10. November 2009, Eiken: Flüchtender wird getroffen
Eiken, 10. November 2009
Der damalige Kripo-Chef Urs Winzenried verteidigt einen Regionalpolizisten, der auf einen Flüchtenden schoss. © André Albrecht
Ähnlich wie der Fall in Wohlen begann eine Situation rund ein halbes Jahr später im Fricktal. Ein damals 38-jähriger Italiener begab sich in die Wohnung seiner Ex-Freundin, die sich zuvor von ihm getrennt hatte. Dort behändigte er zwei Küchenmesser, fuchtelte damit herum und drohte, sich umzubringen. Seine Ex, ihr Bruder und ihre Mutter, die alle in der Wohnung waren, alarmierten die Polizei.
Diese traf den Mann draussen vor dem Haus. «Den mehrfachen Aufforderungen, sein Messer wegzulegen, kam er nicht nach», heisst es im Urteil des Bundesgerichts zum Fall. «Nach weiteren verbalen Deeskalationsversuchen der Polizisten warf er das Messer über die Balkonbrüstung auf den Rasen, zog indes, als sie ihn stellen wollten, ein zweites Messer, stieg über den Gartensitzplatz nach unten und bewegte sich mit Messer in der Hand auf die Polizeibeamten zu.»
Auch Pfefferspray blieb ohne Wirkung
Weil der Mann den Anweisungen der Polizisten weiterhin keine Folge leistete, schoss einer von ihnen «nach wiederholten Warnrufen auf dessen Beine, ohne das Ziel zu treffen». Der zweite Polizist sprühte ihm Pfefferspray ins Gesicht, «was ebenfalls ohne Wirkung blieb». Der Mann rannte auf die Strasse in Richtung Dorfzentrum, wobei er von zwei Polizisten zu Fuss verfolgt wurde. Da sich der Abstand stetig vergrösserte, kniete sich ein Polizist nieder «und gab mit der Maschinenpistole einen Schuss auf die Beine des Flüchtenden ab. Dieser sank darauf zu Boden und warf das Messer weg», heisst es im Urteil.
Das Bundesgericht kam im Mai 2013 zum Schluss, dass die Schussabgabe nicht gerechtfertigt war. Der Regionalpolizist wurde wegen schwerer Körperverletzung zu einer bedingten Haftstrafe von 14 Monaten verurteilt. Er blieb trotz der Verurteilung Mitglied des Korps der Regionalpolizei Oberes Fricktal. Intern hatte der Fall keine Folgen für den Polizisten, es gab keinen Verweis und keine Busse.
8. Juni 2014, Sins: Einbrecher in den Arm geschossen
Sins, 8. Juni 2014
Bei der Verhaftung eines Einbrechers gab ein Polizist einen gezielten Schuss ab, als der Mann eine Waffe aus der Tasche zog. Tele M1
Ein Kantonspolizist schoss am Pfingstsonntag vor sechs Jahren mit seiner Dienstwaffe auf einen Einbrecher und verletzte diesen. Eine Zweierpatrouille war damals am frühen Morgen zu einer Lagerhalle ausgerückt. Als ein Polizist versuchte, den Einbrecher in Handschellen zu legen, setzte sich dieser zur Wehr, griff in seine Jackentasche und zog eine Pistole. Der zweite Polizist reagierte sofort, griff nach seiner Dienstwaffe und schoss dem Einbrecher damit gezielt in den Unterarm. Darauf liess sich der leicht verletzte 42-jährige Italiener widerstandslos festnehmen.
Strafe zugunsten einer stationären Suchttherapie ausgesetzt
Die Aargauer Staatsanwaltschaft untersuchte den Vorfall, stellte das Verfahren gegen den Polizisten wegen Gefährdung des Lebens und Körperverletzung aber ein. Der Einsatz der Schusswaffe sei richtig gewesen, um den Einbrecher festnehmen zu können, befand sie. Der Polizist habe nur durch den gezielten Schuss den unmittelbar bevorstehenden Angriff des Einbrechers auf seinen Kollegen und sich selber abwehren können.
Der Italiener hatte schon vor dem Einbruch in Sins einen weiteren Einbruchdiebstahl, mehrere Diebstähle und weitere Vermögensdelikte begangen. Der Mann wurde zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die Strafe wurde jedoch zugunsten einer stationären Suchttherapie ausgesetzt.