
Die ungleichen SVP-Zwillinge: Wie die Pandemie die Unterschiede zwischen Glarner und Gallati offenlegt
Andreas Glarner und Jean-Pierre Gallati stehen sich mitten auf dem Bahnhofplatz in Aarau gegenüber. Sie schauen sich tief in die Augen und halten je ein Mikrofon in der Hand. Würden sie es mit einem Colt tauschen und noch ein paar Schritte zurück machen, die Szenerie könnte glatt als Duell in einem Spaghetti-Western durchgehen. Drehbuch: Aus einstigen Blutsbrüdern sind Todfeinde geworden.
Die Realität ist weniger drastisch, aber nicht minder interessant: Da stehen sich zwei SVP-Parteifreunde gegenüber, die sich für «Blick»-TV ein 24-minütiges Rededuell zur Coronapolitik liefern und sich in keinem einzigen Punkt einig sind.
Das «Blick»-Streitgespräch ist der vorläufige Höhepunkt des Zwists zwischen dem Aargauer Gesundheitsdirektor und dem Aargauer Kantonalpräsidenten der SVP. Auslöser für das TV-Duell auf dem Boulevard war ein Interview in der AZ, in dem Gallati Argumente für die Ausweitung der Zertifikatspflicht ins Feld führte und damit harsche Reaktionen aus der Bundeshausfraktion seiner Partei auslöste.
Die Fronten zwischen dem Exekutivpolitiker und Parlamentariern aus den eigenen Reihen haben sich in den letzten Monaten verhärtet. Als Magdalena Martullo-Blocher das Wort «Diktatur» in den Mund nahm im Zusammenhang mit dem Coronaregime des Bundes, konterte Gallati im «Talk Täglich» auf Tele M1, wahrscheinlich sei Martullo-Blochers Firma einer Diktatur näher als unser Bundesstaat.
Die Zäsur vor Weihnachten 2020
Der Bruch in der Coronapolitik zwischen Parteiexponenten der SVP und Gallati geht auf den 18. Dezember 2020 zurück. Es war der Freitag vor Weihnachten, als der Regierungsrat zur Verblüffung aller einen Lockdown für den Aargau verordnete. Die alarmierende Situation in den Aargauer Spitälern hatte Gallati und seine Regierungskollegen zum Umdenken und sofortigen Handeln bewogen. Seine SVP dagegen verschärfte ihren Pandemie-Oppositionskurs: gegen jegliche Einschränkungen des öffentlichen Lebens, kritisch gegenüber dem Impfen und neu ablehnend gegen das Covid-Gesetz und damit gegen das Covid-Zertifikat.
«Ich bin kein Parteisoldat und handle nach meiner Überzeugung.»
Dies sagte Gallati gegenüber der «Weltwoche», die ihn als «Bersets Mann im Aargau» betitelte, weil er mittlerweile inhaltlich näher beim Bundesrat politisiert als bei seiner Partei.
Dass ein Exekutivpolitiker in wichtigen Fragen vom Kurs seiner Partei abweicht, ist an und für sich kein neues Phänomen. In der SVP schon gar nicht. Man erinnere sich an die Bundesräte Adolf Ogi oder Samuel Schmid, der vom Blocher-Lager als «halber SVP-Bundesrat» verhöhnt wurde. Auch der Aargauer Bildungsdirektor Alex Hürzeler steht als Vertreter der Regierung immer wieder in Opposition zur SVP und muss sich von den Wortführern seiner Partei Entsprechendes anhören.
Gallati passt allerdings nicht in diese Reihe: Er gehört anders als die oben Genannten nicht zum Soft-Flügel seiner Partei. Der ehemalige SVP-Fraktionschef wurde nicht in den Regierungsrat gewählt (wenn auch hauchdünn gegen die linke Yvonne Feri), weil er sich Andersdenkenden besonders angeschmiedet hätte, sondern obwohl er den Ruf eines scharfen Hundes hat. Wie Andreas Glarner ja auch.
Gleiche Herkunft, unterschiedlicher Werdegang
Gallati und Glarner. Zwei gleichgesinnte Hardliner, zwei politische Zwillinge?
Die beiden haben tatsächlich einige Gemeinsamkeiten. Die Wichtigste: Beide waren SVP-Fraktionschef im Grossen Rat und in dieser Funktion scharfzüngige Kritiker der Regierung. Allen voran des Departements Gesundheit und Soziales, das acht Jahre von der Grünen Susanne Hochuli geführt wurde, dann in einem Fiasko endend von Franziska Roth (ehemals SVP) und jetzt also von Gallati selbst. Als dieser 2015 das Fraktionspräsidium von Glarner übernahm, wurde von links gefrotzelt: «Wie ist das mit dem Teufel und dem Beelzebub, wenn Gallati Glarner ersetzt?», (Markus Leimbacher, ehemaliger SP-Grossrat).
Die Furcht beziehungsweise Befürchtung kam nicht von ungefähr: Gallati und Glarner politisierten nicht nur stramm rechts, sie bildeten zusammen mit den SVP-Kollegen Gregor Biffiger (ehemaliger Grossrat und ehemals Richter in Bremgarten) sowie Ernst Meier (ehemaliger Bezirksparteipräsident Bremgarten) die sogenannte «Stahlhelm»-Fraktion, die auch Gleichgesinnte nicht scheute, was unter anderem der frühere SVP-Nationalrat Linis Füglistaller zu spüren bekam. Der rechtsbürgerliche Stammtisch trifft sich nach eigenen Angaben heute noch regelmässig in Berikon zum Austausch, wo Gallati seine Anwaltskanzlei führte. Glarner wie Gallati engagierten sich zusammen in weiteren konservativen Vereinen, etwa der Aargauischen Vaterländischen Vereinigung, die Glarner bis zu deren Auflösung 2019 präsidierte.
Auch ihre Herkunft verbindet die zwei: Gallati (Wohlen) und Glarner (Oberwil-Lieli) sind beide Freiämter und haben ihre familiären Wurzeln im Kanton Glarus. Glarner ist in Glarus geboren, Gallati hat als Heimatort Näfels (neu Glarus-Nord).
Beruflich schlugen die beiden unterschiedliche Wege ein: Gallati studierte Jus und machte Militärkarriere bis zum Hauptmann. Glarner absolvierte eine Lehre als Lüftungsspengler und bildete sich danach in Betriebstechnik weiter. Beide wurden Unternehmer: Gallati gründete eine Anwaltskanzlei, Glarner unter anderem eine Firma, die Rollstühle, Krücken und weitere Hilfsmittel im Gesundheitswesen vertrieb.

Der Aargauer Regierungsrat Jean-Pierre Gallati bei einem AZ-Interview im August.
Ihre Wege trafen sich in der Politik. Zuerst im Bezirk Bremgarten, später auf Kantonsebene im Grossen Rat. Gallati war Einwohnerrat in Wohlen und bekämpfte da Gemeindeammann Walter Dubler, bis dieser zurücktrat. Glarner machte sich als Gemeindeammann von Oberwil-Lieli einen Namen, in dem er mit seiner Tiefsteuerpolitik Gutbetuchte anlockte und sorgte landesweit für Schlagzeilen mit seiner Weigerung, Asylbewerber aufzunehmen.
Glarner (58) und Gallati (55) gehören zur Generation, die den Aufstieg der SVP unter Christoph Blocher zur klar grössten Partei miterlebte und im Aargau selbst mitprägte. An den beiden kam niemand vorbei, das Duo gab in der Partei lange den Takt an.
Fakten und Meinungen: Wie Gallati und Glarner ihre Rolle interpretieren
Wie kommt es also, dass die zwei Parteifreunde ausgerechnet in der grössten Herausforderung der jüngeren Geschichte so weit auseinanderliegen wie Nord- und Südpol und sich auf dem Bahnhofplatz Aarau vor der TV-Kamera Saures geben?
Glarner erklärt es damit, dass sie halt unterschiedliche Rollen spielten. Gallati habe als Gesundheitsdirektor die Aufgabe, «die Bevölkerung bestmöglich zu schützen», er dagegen vertrete als Parteipräsident die Meinung der SVP, die wenn nötig auch die eigenen Regierungsräte nicht schone.
Gallati will von dieser Auslegung nichts wissen. Er sieht sich nicht in einer Rolle. Er setzt auf rationale Argumente. Öffentlicher Druck interessiere ihn nicht, auch auf Interessenverbände schaue er nicht. Seine Partei schliesst er mit ein. Der ehemalige SVP-Fraktionschef betont, dass er gar nicht vom Parteiprogramm abweichen könne, da in diesem zur Pandemiepolitik überhaupt nichts festgehalten ist. Die Einführung des Epidemiegesetzes, das weitgehende Vollmachten für die Regierung vorsieht, hat die SVP damals jedenfalls befürwortet.
Gallati blüht auf in der Krise, Glarner braucht die Resonanz
In der Pandemie kristallisieren sich die unterschiedlichen Eigenschaften der beiden heraus.
Gallati ist im Krisenmodus offensichtlich in seinem Element. Generalstabsmässig, mit Mitteln militärischer Führung, geht er die bis vor kurzem völlig unbekannte Herausforderung Pandemie an. Er tut dies im kleinen Kreis, umgeben von Fachleuten, losgelöst von Parteiideologie.
Glarner wurde von der Pandemie zuerst einmal gebremst. Im Gegensatz zu Gallati fühlt sich der gesellige Glarner bei Anlässen wie ein Fisch im Wasser. Das beste Beispiel dafür ist seine Brandrede am Parteitag in Lupfig, mit der er die Parteikollegen überzeugte, ihn zum Präsidenten zu wählen. Kaum im Amt, kam aber das gesellschaftliche Leben wegen Corona praktisch zum Erliegen. Glarners Draht zur Basis wurde gekappt. Im AZ-Interview vom letzten Februar beschrieb er das so:
«Es ist extrem schwierig, wenn man keine Säle füllen und nicht mehr direkt bei den Leuten sein kann.»
Umso mehr nutzt Glarner die Bühne der Medien, insbesondere die sozialen Medien Facebook und Twitter, wo er gewohnt zugespitzt gegen alles schiesst, was sich links der SVP bewegt. Die Pandemie bietet da ein zusätzliches, vor allem gegen den Staat gerichtetes Feld: Der «inkompetente Bundesrat» bekommt da besonders sein Fett ab.
Der «Höseler»-Vorwurf und der «Hetzer»-Konter
Und neuerdings eben auch die Aargauer Kantonalregierung. «Höseler» nannte Glarner die Aargauer Regierungsräte im Zusammenhang mit dem Pandemie-Bekämpfung jüngst. Er habe damit den Gesamtregierungsrat gemeint, «sicher nicht meinen Freund Gallati», wiegelt Glarner im «Blick»-Duell auf dem Aarauer Bahnhofplatz ab. Am Wort «Höseler» fand Glarner allerdings derart Gefallen, dass er es bei nächster Gelegenheit wieder brauchte für die von Gallati geprägte Pandemiepolitik des Regierungsrats.
Bei aller Fundamentalkritik an Gallatis Coronapolitik betont Glarner: «Das hat unsere Beziehung nicht belastet.» Vor der «Blick»-Kamera schmeichelt er Gallati gar und sagt mit seinem bekannt spitzbübischen Lächeln: «Er ist der beste Regierungsrat, denn wir haben können.»

Andreas Glarner, Nationalrat und Präsident SVP Aargau, fotografiert in seinem Büro in Oberwil-Lieli im Januar.
Gallati verzieht dabei keine Miene. Aus der Reserve locken lässt sich der Gesundheitsdirektor nur einmal. Als Glarner die Covid-Impfungen «Menschenversuche» nennt und von der «Sauce, die wir uns hier reinjagen» spricht. «Er hetzt gegen die Impfungen, anders kann ich es nicht sagen», so Gallati, ohne Glarner direkt anzuschauen. «Dabei hat er sich ja selbst impfen lassen.» An einer anderen Stelle nennt Gallati Glarner einen, der «die Realität verweigert». Gegenüber der «Weltwoche» sagt Gallati, was ihn grundsätzlich ärgert an der Parteipolitik zu Corona: «Es fehlt uns an Leuten, die sich bei diesem Thema auskennen, die kompetent sind.»
Witzeln über Glarners Kompetenz
An einem nicht öffentlichen Anlass machte Gallati noch deutlicher, was er von Glarners Kompetenz in der Gesundheitspolitik hält. Anlässlich der Verabschiedung von Mitte-Politikerin Ruth Humbel als Präsidentin der nationalrätlichen Sozial- und Gesundheitskommission richtete Gallati als Vertreter des Regierungsrats ein paar Worte an die Gäste, darunter auch Bundesrat Alain Berset. Sinngemäss sagte Gallati gemäss mehreren Quellen süffisant: Wenn man einfache Auskünfte wolle zur Gesundheitspolitik, etwa wann die nächste Sitzung der Kommission stattfinde, könne man sich gut an Andreas Glarner wenden. Für anspruchsvollere Fragen halte er sich lieber an Kommissionspräsidentin Ruth Humbel.
Glarner scheint das sportlich zu nehmen. Angesprochen auf die Zweifel an seiner Kompetenz meint er, man könne nicht in allen Dossiers gleich schnell sattelfest sein. Zudem sei viel wichtiger, dass nicht nur Lobbyisten aus dem Gesundheitswesen in den Kommissionen sässen, sondern normale Leute wie er.
Glarner und Gallati. Am 17. September an der SVP-Herbsttagung in Buchs treffen die beiden wieder aufeinander. In der Einladung werden die beiden entsprechend angekündigt. Bei Gallati heisst es: «Aktuelles aus der Kantonsregierung.» Bei Glarner steht: «Brandrede zur Lage der Nation.»