
Oberster Aargauer Arzt schlägt Alarm: Kranke sollen weiter in die Praxis
Die Hausärzte im Aargau sind besorgt: Wo es vor der Coronakrise in ihrem Praxisräumen noch zuging wie im Bienenstock, herrscht heute gähnende Leere. Die Auslastung der Arztpraxen ist massiv zurückgegangen. Hausärzte wie der Schöftler Grossrat Severin Lüscher melden einen Rückgang der Konsultationen von 60 bis 70 oder gar 80 Prozent gegenüber dem Normalbetrieb, vor allem seit der vergangenen Woche. Kein Wunder, mussten schon mindestens 70 Hausarzt- und Spezialarztpraxen im Kanton Kurzarbeit anmelden. Die genaue Zahl kennt man nicht, viele Gesuche warten beim Kanton noch auf Bearbeitung.
Bleiben Notfallpatienten zu lange zu Hause?
Das hängt einerseits damit zusammen, dass nicht-dringliche Therapien und Untersuchungen vorübergehend nicht mehr gemacht werden dürfen. Dazu zählen zum Beispiel unspezifische Check-ups zur Gesundheitsvorsorge, Seniorenuntersuchungen fürs Strassenverkehrsamt oder auch eine Untersuchung des Knies, das seit einem Jahr gelegentlich zwickt.
Andererseits scheinen sich die Leute aber auch generell zu scheuen, derzeit zum Arzt zu gehen. Das beobachtet Jürg Lareida, Präsident des Aargauischen Ärzteverbands – und er macht sich Sorgen: «Mit einem Rückgang der Patientenzahlen haben wir gerechnet – aber nicht in diesem Ausmass, das ist Wahnsinn. Wir haben fast keine Hirnschläge oder Herzinfarkte mehr in den Praxen, auch nicht in den Notfallstationen der Spitäler. Das kann eigentlich statistisch nicht sein. Ich frage mich: Wie viele Patienten sitzen aus falscher Zurückhaltung zu Hause und erkranken schwer, ohne dass man es merkt? Insbesondere jetzt, wo Spitex und die Angehörigen nicht mehr so häufig vorbeischauen können?» Lareida betont, dass es vor allem für ältere und chronisch kranke Patienten enorm wichtig ist, weiterhin ihre regelmässigen Termine beim Arzt wahrzunehmen. «Zum Beispiel Patienten mit Herzinsuffizienz, also chronischer Herzschwäche: Bei ihnen kann es innert weniger Tage zu massiven Wassereinlagerungen im Körper kommen. Wenn man das rechtzeitig merkt, kann man es ambulant behandeln, wenn nicht, müssen sie auf die Intensivstation – und das wäre eine Katastrophe.»
Ähnlich verhalte es sich mit Diabetikern: «Gerade jetzt, wo man sich nicht viel bewegt, kann es zu einer unerkannten Überzuckerung kommen, die im Koma endet.» Auch für Patienten, die bestimmte Blutverdünner einnehmen, deren Wirkung alle paar Wochen kontrolliert werden müssen, ist die Einhaltung dieser Termine wichtig.
Nicht zu vergessen: Die Corona-Verdachtsfälle, die mehr als eine Woche starken Husten oder gar Atemnot haben. Auch sie gehören zum Arzt, betont Lareida. «Wenn sich die Patienten nicht mehr in die Praxis trauen, etwa weil sie den öffentlichen Verkehr benutzen müssten, machen die meisten Ärzte auch Hausbesuche», sagt der Ärzteverbandspräsident.
Fast keine Bagatellfälle mehr in den Notfallstationen und Praxen
Auch Hausarzt Severin Lüscher beobachtet, dass die Patienten «deutlich selektiver und restriktiver sind in ihrer Beurteilung, ob jetzt ein Arztbesuch sein muss». All die Bagatellen, die im Normalbetrieb «fast massenhaft aufkreuzen», gebe es nun fast gar nicht mehr. «Ich wage die Prognose, dass wir später in dieser Geschichte einige Pechvögel sehen werden, denen der verordnete Aufschub nicht gutgetan hat», so der Grossrat, «die Allermeisten werden das aber unbeschadet überstehen, wenn wir ab zirka Juni wieder vernünftig arbeiten können.»
Was die Kurzarbeit in den Praxen angeht, so sagt Lüscher, dass seine Branche damit kaum Erfahrung habe. «Wir können nicht abschätzen, wie lange die Flaute andauert, und wir haben eine Vorhalteleistung zu erbringen für diejenigen, welche immer noch zu versorgen sind. Für mich ist klar, dass wir eine Delle von zwei, drei Wochen selber tragen können. Aber wenn es länger dauert, spüren wir in unseren Unternehmungen auch die Fixkosten. Weil Kurzarbeit nicht im Nachhinein geltend gemacht werden kann, müssen wir diese Gesuche halt jetzt einreichen, auch wenn’s am Schluss vielleicht gar nicht so schlimm wird.»