
Defibrillatoren im Aargau: Niemand kennt die Standorte der Lebensretter
Tessin als Vorbild bei Lebensrettung
Der Kanton Tessin gilt in Sachen Bekämpfung von Herzstillstandstodesfällen als vorbildlich. Die Stiftung «Ticino Cuore» wurde 2005 ins Leben gerufen, mit dem Ziel, die Überlebens- chancen von Menschen zu verbessern, die einen plötzlichen Herzstillstand erleiden. Die Stiftung hat zahlreiche First Responder ausgebildet. Laienretter also, die Herzdruckmassagen durchführen können.
Erkennt die Notrufzentrale, dass ein Herzstillstand vorliegt, wird über Handyortung der jeweils nächste First Responder benachrichtigt, der dann mit Hilfe des naheliegendsten Defibrillatoren eingreift. Die einheitliche und deutliche Beschilderung der öffentlichen Defibrillatoren gehört ebenfalls zum Tessiner Lebensrettungskonzept. Die Standorte sind auf einer Karte erfasst, inklusive Beschrieb, wo genau der Defibrillator zu finden ist. «Zwischen der Apotheke und der Raiffeisen Bank auf der Piazzale Motta», steht da zum Beispiel.
Gemäss Eigenangaben der Stiftung beträgt die Gesamtüberlebensrate im Kanton Tessin bisher rund 14 Prozent und bei Kammerflimmern sogar bis zu 55 Prozent. Das ist deutlich höher als in anderen Kantonen. (az)
Es ist eine tragische Geschichte, die eine junge Frau in der Pendlerzeitung «20 Minuten» kürzlich erzählte. Sie war auf dem Heimweg, als sie zusammen mit ihrer Mutter am Bahnhof Baden einen medizinischen Notfall beobachtete. Ein Mann lag am Boden, ein anderer führte eine Herzmassage durch. Sie seien angewiesen worden, einen Defibrillator zu suchen, erzählt die Frau «20 Minuten». Sie seien sofort losgerannt, hätten aber kein Gerät gefunden.
Auch die Polizei, die noch vor der Ambulanz am Bahnhof war, habe keinen Defibrillator dabeigehabt und auch nicht gewusst, wo es einen geben könnte. Die Standorte seien nirgends hinterlegt, sagte eine Polizeisprecherin gegenüber «20 Minuten». Es gebe kein Verzeichnis. Ein Defibrillator in jedem Polizeiauto wäre zwar wünschenswert, so die Sprecherin weiter. Aber das Gerät gehöre nicht zur Pflichtausstattung der Polizei.
Eine Ausnahme ist die Regionalpolizei aargauSüd. Sie hat 2018 alle Polizeiautos mit einem Defibrillator ausgerüstet. Die Notrufzentrale kann die Regionalpolizei seither als First Responder aufbieten, bis ein Krankenwagen eintrifft.
Das Department Gesundheit und Soziales teilt mit, dass keine Pflicht bestehe, dass Besitzer ihre Defibrillatoren dem Kanton melden müssen. «Die Kennzeichnung und Kommunikation der einzelnen Standorte obliegen den Besitzern», sagt Barbara Hürlimann, Leiterin der Abteilung Gesundheit. Aus diesem Grund gebe es derzeit kein kantonales Verzeichnis.
Auch die Sanitätsnotrufzentrale 144, die medizinische Notrufe entgegennimmt und telefonisch Anweisungen gibt, bis die Ambulanz vor Ort ist, hat laut Barbara Hürlimann «keine Kenntnisse über Standorte von Defibrillatoren».
Jahrelanger Kampf für ein nationales Verzeichnis
Erich Grossniklaus kämpft seit zehn Jahren für ein nationales Verzeichnis von Defibrillatoren. Ein guter Freund ist vor Jahren in seinem Betrieb wegen eines Herzproblems gestorben. «Wir hatten damals keinen Defibrillator vor Ort», erzählt er. Nach dem tragischen Vorfall hat er sofort gehandelt und ein Gerät angeschafft. Gleichzeitig hat er die Online-Plattform www.herzsicher.ch gegründet.
Sein Ziel ist ein flächendeckendes Netz von Defibrillatoren in Firmen und öffentlichen Gebäuden sowie auf Plätzen aufzubauen und die Standorte in einer interaktiven Karte einzutragen. Der Defibrillator in seinem Geschäft war der erste auf der Karte. Inzwischen seien bereits rund 3500 Defibrillatoren in der ganzen Schweiz registriert, sagt Erich Grossniklaus.
Defibrillatoren können Leben retten. Die Geräte können lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen wie Kammerflimmern beheben. In einem Notfall zählt jede Minute. Je schneller den Betroffenen geholfen wird, desto grösser sind die Überlebenschancen und desto kleiner das Risiko für bleibende Schäden. «Man hat ungefähr drei Minuten Zeit, um einen Defibrillator zu organisieren», sagt Erich Grossniklaus. «Wenn man die Standorte nicht kennt, ist das schier unmöglich.» Zwar seien die grösseren Einkaufsläden wie Migros und Coop häufig mit einem Defibrillator ausgerüstet, sagt er. «Aber es gibt keine Garantie.»
Kritik am Kantönligeist: Jeder hat sein eigenes System
Erich Grossniklaus ist ein Einzelkämpfer. Er pflegt seine Plattform in Eigenregie, erfasst die Standorte von Defibrillatoren, die ihm gemeldet werden und hält die Karte aktuell. «Ich mache das kostenlos, weil es mir ein Anliegen ist, die Situation zu verbessern», sagt er. Alle fänden seine Plattform eine gute Idee – aber unterstützt werde er trotzdem von niemandem. Vor Jahren hat er sein Anliegen, ein nationales Verzeichnis zu schaffen, auch bei der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren deponiert. «Das Gespräch war sehr nett», erinnert er sich. «Aber am Schluss hiess es einfach, dass jeder Kanton sein eigenes System habe.»
Laut Barbara Hürlimann prüft das Departement Gesundheit und Soziales des Kantons Aargau derzeit auch, «wie die Lokalisation und Zugänglichkeit von Defibrillatoren verbessert werden könnte». Erich Grossniklaus vermutet, dass der Kanton Aargau am Schluss – wie andere Kantone auch – eine eigene Plattform ins Leben rufen werde. «Dieser Kantönligeist bringt doch nichts», kritisiert er. «Ein Herzstillstand kennt keine Kantonsgrenze.» Ausserdem sei es für Leute, die in Notfallsituationen helfen wollen, nur verwirrend, wenn es am Schluss in jedem Schweizer Kanton eine andere Plattform gebe.
Barbara Hürlimann sagt, der Kanton Aargau prüfe derzeit eine digitale Umsetzung und werde dabei auch die Unterstützung von interkantonalen Lösungen in Betracht ziehen.