Nur mit Zertifikat ins Restaurant, Testpflicht im Heim oder sogar Lockdown: So plant der Aargau für den Worst Case

Im Aargau verdoppeln sich aktuell die Fallzahlen alle zwei Wochen. Am Dienstag waren es 229 neue Corona-Infektionen. Die Auslastung in den Spitälern ist aktuell zwar noch tief, doch auch dort zeigt der Trend nach oben. Momentan sind 73 Prozent der Beatmungsplätze belegt. Dieser Wert sollte nicht über 80 Prozent steigen.

Barbara Hürlimann, Leiterin Abteilung Gesundheit, Departement Gesundheit und Soziales.

Barbara Hürlimann, Leiterin Abteilung Gesundheit, Departement Gesundheit und Soziales.

Sandra Ardizzone

Noch sei die Situation nicht besorgniserregend, sagte Barbara Hürlimann, Leiterin Abteilung Gesundheit beim Kanton, am Dienstag an einer Pressekonferenz. Doch man müsse achtsam bleiben. Insbesondere, weil die Impfkampagne nicht im gewünschten Tempo vorwärtsgehe. 53 Prozent der Aargauerinnen und Aargauer sind aktuell geimpft, neue Erstimpfungen kommen nur noch wenige dazu.

Andrée Friedl, Leitende Ärztin Infektiologie/Spitalhygiene, Kantonsspital Baden.

Andrée Friedl, Leitende Ärztin Infektiologie/Spitalhygiene, Kantonsspital Baden.

Sandra Ardizzone

Drohen die Aargauer Spitäler, erneut ans Limit zu kommen, so wie im vergangenen Winter? Das sei aktuell schwierig einzuschätzen, sagte Andrée Friedl, Infektiologin beim Kantonsärztlichen Dienst. Momentan treiben viele Ferienrückkehrer die Fallzahlen in die Höhe. Weil die Ferien zu Ende sind, dürfte es an dieser Front demnächst etwas Entspannung geben. Was Friedl zudem positiv stimmt:

«Die Impfung zeigt bereits einen deutlichen positiven Effekt auf die Hospitalisationen.»

So waren seit Ende Januar schweizweit nur etwa zwei Prozent der hospitalisierten Covid-Patienten geimpft. Anders ausgedrückt: Wer geimpft ist, landet mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht im Spital.

Impfquote soll markant erhöht werden

Darum lautet das oberste Ziel der Aargauer Regierung nun, die Impfquote markant zu erhöhen. Diese Woche wurde damit begonnen, an Mittelschulen zu impfen, später sollen die Oberstufen an Volksschulen dazukommen. Nächste Woche wird zudem eine weitere Werbekampagne anlaufen. Noch weiter ging der Kanton Solothurn: Einzelne Gemeinden schickten Ungeimpften Briefe nach Hause, um für die Impfung zu werben. Das ist im Aargau zumindest im Moment nicht geplant.

Regierungsrat Jean-Pierre Gallati, Vorsteher Departement Gesundheit und Soziales.

Regierungsrat Jean-Pierre Gallati, Vorsteher Departement Gesundheit und Soziales.

Sandra Ardizzone

Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati warnte an der Pressekonferenz: Steigen die Zahlen der Neuansteckungen und der Hospitalisierungen so wie in den vergangenen Wochen, landen die Spitäler dort, wo sie bereits vergangenen Dezember waren: am Limit. Und auch wenn unklar sei, ob die Zahlen tatsächlich weiterhin so stark steigen:

«Wir müssen uns darauf vorbereiten, falls das Gesundheitssystem überlastet wird.»

In einem ersten Schritt sollen deshalb Schutzkonzepte genauer überprüft werden.

Verschärfung der Massnahmen im Kanton angedacht

Sollte die Lage in den Spitälern eskalieren, will der Aargau die Massnahmen wieder verschärfen. Vorausgesetzt, der Bund hat die Schraube bis dahin nicht ohnehin schon angezogen. Regierungsrat Gallati gab die Kriterien bekannt, nach denen man künftig die Massnahmen verschärfen könnte. Diese Kriterien sollen allerdings kein automatisches Ampelsystem sein, betonte er. Nur weil die Voraussetzungen für eine weitere Verschärfung gegeben wären, heisse das nicht, dass in jedem Fall auch verschärft würde. Die Regierung würde jeweils im Einzelfall entscheiden.

Der Aargau plant mit drei Eskalationsstufen. Hauptkriterium ist dabei die Situation in den Spitälern.

Kriterien: 1. Eskalation 2. Eskalation 3. Eskalation (Lockdown)
R-Wert im 7-Tage-Schnitt über 1,5 über 1,5 über 1,5
Anteil Covid-Patienten an Beatmungsplätzen 40 % 50 % 60 %
Allgemeine Belegung Beatmungsplätze 95 % 100 % Zusatzbetten belegt
Auswirkungen auf Operationen Wahleingriffe verschoben Wahleingriffe und medizinisch dringliche OP verschoben Notfall-OP gefährdet
 

Für jede Eskalationsstufe hat der Aargau nun verschiedene Massnahmen angedacht.

Zum Beispiel für Restaurants und Bars: Ab Stufe 2 sieht die Regierung eine Zertifikatspflicht für Gäste vor. Ab Stufe 3 würden die Beizen wieder geschlossen. Zertifikate sollen also eingesetzt werden, um Schliessungen möglichst lange zu verhindern.

Mögliche Folgen für: 1. Eskalation 2. Eskalation 3. Eskalation (Lockdown)
Restaurants Veranstalterwarnung durch SwissCovid-App Zertifikatspflicht für Mitarbeitende und Gäste Schliessung
Spitäler und Heime Pflicht zu repetitiven Tests für ungeimpfte Mitarbeitende Pflicht zu repetitiven Tests für ungeimpfte Mitarbeitende Pflicht zu repetitiven Tests für ungeimpfte Mitarbeitende
Veranstaltungen bis 1000 Personen Veranstalterwarnung durch SwissCovid-App Bewilligungspflicht ab 100 Personen Verbot
 

Keine Freude daran hätte die Mehrheit der Aargauer Wirte, sagt Bruno Lustenberger, Präsident von Gastro Aargau. Denn: Zertifikate zu überprüfen, bedeutet für die Beizen zusätzlichen Aufwand. Manche müssten wohl zusätzliches Personal einstellen. Und würden die Beizen wieder geschlossen, würde es richtig schwierig, so Lustenberger:

Bruno Lustenberger, Präsident Gastro Aargau.

Bruno Lustenberger, Präsident Gastro Aargau.

Sandra Ardizzone
«Der finanzielle Aspekt wäre noch das eine. Der Kanton würde uns unterstützen. Aber der psychische Aspekt ist das andere. Die Wirte hatten bereits so lange zu, sie sind am Limit. Wir wollen arbeiten.»

Auch in Pflegeheimen und Spitälern sind Massnahmen angedacht. Ab Stufe 1 ist eine Pflicht für ungeimpftes Personal vorgesehen, an den repetitiven Tests mitzumachen. Diese Tests sind im Moment noch freiwillig.

André Rotzetter, Geschäftsführer des Vereins für Altersbetreuung im Oberen Fricktal und Spartenpräsident Pflegeinstitutionen der Vaka.

André Rotzetter, Geschäftsführer des Vereins für Altersbetreuung im Oberen Fricktal und Spartenpräsident Pflegeinstitutionen der Vaka.

Alex Spichale

Diesen Schritt hält André Rotzetter, Präsident der Aargauer Pflegeheime, für vertretbar. Das Ziel müsse es sein, einen machbaren Weg zu finden, um Ausbrüche im Heim frühzeitig zu erkennen. Neu übernimmt der Kanton das Pooling der repetitiven Tests. Dadurch kann das Personal neu Einzelproben einreichen und getestet werden, ohne dass es an arbeitsfreien Tagen ins Heim kommen müsste.

Dass die Regierung grundsätzlich Massnahmen andenkt, um die Bewohnerinnen und Bewohner zu schützen, hält Rotzetter ebenfalls für richtig. Er betont aber:
«Die Heime sind das Zuhause dieser Menschen.»

Ebenso wichtig sei es, ihre Lebensqualität aufrechtzuerhalten. Es gelte, einen Mittelweg zu finden: Schutz vor Infektionen auf der einen, Lebensqualität auf der anderen Seiten.

Bei einer noch stärkeren Eskalation der Lage wäre die schärfste Massnahme eine Impfpflicht fürs Personal in den Gesundheitseinrichtungen. «Wir würden wünschen, dass sie sich impfen müssten», sagte Gesundheitsdirektor Gallati. Allerdings kann der Aargau diesen Schritt gar nicht in Eigenregie beschliessen. Dazu bräuchte es eine Vorgabe des Bundes.

Lehrerpräsidentin hätte sich mehr Klarheit gewünscht

Weitere Orte, an denen Massnahmen angedacht sind, sind bei Veranstaltungen, am Arbeitsplatz, bei Sport-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen und an Schulen. Dort hat der Kanton jeweils keine konkreten Beispiele vorgestellt, ab welcher Stufe welche Verschärfungen gelten könnten. Die Regierung würde dort bei einer Eskalation situativ Massnahmen beschliessen. So zum Beispiel auch an den Schulen.

Kathrin Scholl, Präsidentin Aargauer Lehrerinnen- und Lehrerverband.

Kathrin Scholl, Präsidentin Aargauer Lehrerinnen- und Lehrerverband.

Alexander Wagner

Das hält Kathrin Scholl, Aargauer Lehrerinnen- und Lehrerverbandspräsidentin, grundsätzlich für richtig. Es müsse zwar alles getan werden, um Schulschliessungen zu verhindern. Aber das bestimme im Endeffekt der Verlauf der Pandemie.

In zwei Punkten hätte sie sich aber mehr Klarheit gewünscht. Zum einen haben Schulen und sogar einzelne Lehrpersonen die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, ob und wann Masken getragen werden müssen, etwa an einem Elternabend. Hier hätte sie sich eine klare Kommunikation vom Kanton gewünscht, um die Lehrpersonen zu entlasten.

Und zum anderen sorgt sie sich um die Luftqualität in Schulzimmern. Es brauche dringend Luftfilter, wo nicht ausreichend gelüftet werden könne. Hier seien der Kanton und die Gemeinden nun in der Pflicht, schnell zu handeln.