
Der Präsident des Polizeiverbandes zum «Argus-Bundesgerichtsurteil»
Samstag, 2. Februar 2019, Dulliken: Ein 43-jähriger Italiener bedroht in der Nacht seine Frau mit einer Waffe. Als die Sondereinheit Falk der Solothurner Kantonspolizei eintrifft, kann sie aus der Wohnung flüchten. Die Einsatzkräfte warten ab, können mithilfe einer Bezugsperson schliesslich Kontakt mit dem Mann aufnehmen. Darauf verlässt er nach dem Mittag die Wohnung, die Polizei kann ihn festnehmen. «Das Ziel war es, dass keine Personen verletzt werden», sagte Thomas Kummer, Sprecher der Kantonspolizei Solothurn, später gegenüber Tele M1.
Montag, 25. Mai 2009, Wohlen: Zwischen einem 30-jährigen Serben und seiner Ehefrau kommt es zum Streit. Der Mann ist betrunken und randaliert. Die Frau flüchtet aus der Wohnung zu einer Nachbarin und alarmiert von dort aus die Polizei. Der Mann droht, sich mit einem Messer umzubringen oder vom Balkon zu springen. Die Polizei rückt mit der Sondereinheit Argus an, der Einsatzleiter lässt später die Wohnung stürmen. Dort fuchtelt der Mann mit einem Messer herum, ein Polizist gibt zwei Schüsse auf ihn ab. Der Serbe wird von den Kugeln im Unterleib getroffen und schwer verletzt.
Folgen für die Polizeiarbeit?
In den Fällen in Dulliken und Wohlen ist die Ausgangslage ähnlich, sie entwickeln sich aber völlig unterschiedlich. Dies, weil die Verantwortlichen der Solothurner Spezialeinheit Falk letzte Woche anders vorgingen als der Einsatzleiter der Aargauer Sondereinheit Argus vor zehn Jahren. Nach der Aktion in Dulliken sitzt der Italiener in Untersuchungshaft, nach dem Einsatz in Wohlen standen hingegen die beteiligten Polizisten im Fokus der Justiz.
In einem Urteil vom Mittwoch hat das Bundesgericht entschieden, dass der Offizier, der den Befehl zur Stürmung der Wohnung gab, wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung schuldig gesprochen werden muss. Die höchsten Richter haben die Strafe gegen den Mann verschärft und den Fall «zur neuen Entscheidung an das Obergericht zurückgewiesen», wie es im Urteil heisst.
Was bedeutet der Entscheid aus Lausanne für den 63-jährigen Einsatzleiter, der immer noch bei der Kantonspolizei arbeitet? Bernhard Isenring, der Rechtsanwalt des Polizeioffiziers, lässt eine Anfrage der AZ unbeantwortet. Polizeisprecher Bernhard Graser verweist an das Departement von Innendirektor Urs Hofmann. Dessen Sprecher Samuel Helbling sagt: «Noch ist das Verfahren nicht abgeschlossen, wir müssen das definitive Urteil abwarten.» Gestützt darauf müsse analysiert werden, ob es neue relevante Erkenntnisse gebe, die Auswirkungen auf die Polizeiarbeit hätten. Die Prozessabläufe der Kantonspolizei würden laufend überprüft und angepasst, nach jedem Einsatz erfolge ein Debriefing. «Die heutigen taktischen Einsatz- und Führungsabläufe werden aber nicht nach aussen kommuniziert», sagt der Sprecher.
«Das Urteil ist eine Belastung»
Dieter Egli, SP-Grossrat und Präsident des kantonalen Polizeiverbandes, findet es grundsätzlich richtig, dass Gerichte das Verhalten der Polizei in solchen Fällen überprüfen. Inhaltlich könne er sich nicht zum Entscheid des Bundesgerichts äussern, hält Egli auf Anfrage fest. «Das neue Urteil führt aber dazu, dass der Fall juristisch nochmals weitergeht, und das ist eine Belastung für das Polizeikorps.»
Daraus ergebe sich für die Polizei eine gewisse Unsicherheit, wenn es darum geht, wie solche Situationen künftig angegangen werden sollten. Man könne immer darüber diskutieren, wie lange ein Einsatzleiter warten solle, bis er den Befehl zum Eingreifen gebe, oder ob er einen Verhandler beiziehen solle, räumt Egli ein. «Aber wenn man den Fall nachträglich beurteilt, darf man nicht vergessen, dass der Offizier unmittelbar entscheiden muss und auch unter beträchtlichem Druck steht», gibt er zu bedenken. «Man stelle sich vor, der Einsatzleiter hätte in Wohlen die Spezialeinheit mehrere Stunden abwarten lassen und der Mann in der Wohnung hätte sich selber etwas angetan. Wie sich eine Situation entwickelt, ist schwer einzuschätzen, aber in einem solchen Fall wäre die Kritik an der Polizei wohl noch stärker gewesen.»
Schütze definitiv freigesprochen
Markus Leimbacher war Vorgänger von Dieter Egli als Präsident des Polizeiverbandes. Zudem vertrat Leimbacher als Anwalt den Polizisten, der in der Wohnung auf den Mann geschossen hatte. Dieser wurde im November 2017 vom Obergericht von den Vorwürfen der schweren Körperverletzung und der versuchten vorsätzlichen Tötung freigesprochen. Die Richter kamen zum Schluss, dass der Polizist in Notwehr gehandelt hatte. Der Serbe habe ihn mit seinem Messer auf Kopfhöhe bedroht. Die Schussabgabe sei ein geeignetes Mittel zur Abwehr der Gefahr gewesen.
In seinem Urteil hat das Bundesgericht den Freispruch für den Schützen bestätigt. «Er lebte fast zehn Jahre im Ungewissen, ob er damals richtig gehandelt hatte», sagt Leimbacher. Nicht nur für seinen Mandanten, sondern auch für die Polizeiarbeit sei dieser Entscheid sehr wichtig. «Er und die Kantonspolizei wissen nun endlich, dass all das, was seit Jahren in der Ausbildung gelehrt wird, auch von den Gerichten geschützt wird», betont Leimbacher.