25 Millionen mehr für Pflegeheime: Aargauer Gemeinden müssen massive Mehrkosten tragen

Das Gesundheitswesen ist in Bewegung – auch wegen Gerichten. Nach dem Bundesverwaltungsgerichtsentscheid zur Mittel- und Gegenständeliste (MiGeL) hat ein weiteres, bereits im letzten Juli gefälltes Bundesgerichtsurteil zu den Restkosten für Pflegeheime noch viel grössere Auswirkungen. Demnach müssen von der Krankenkasse nicht gedeckte Kosten nach Abzug eines Anteils der Versicherten vollumfänglich von Kantonen oder Gemeinden getragen werden, selbst wenn sie über einem kantonalen Normkostensatz liegen.

Lange war unklar, welche Auswirkungen das Urteil hat. Jetzt lichtet sich der Nebel. Der Verband der Aargauischen Spitäler, Kliniken und Pflegeinstitutionen (Vaka) schätzt den Gesamtbetrag, den die Gemeinden übernehmen müssen, auf rund 15 Millionen Franken. Geschäftsführer Hans Urs Schneeberger sagt: «Im Aufgaben- und Finanzplan 2019 des Kantons ist bereits ein Teil der Mehrkosten enthalten. Damit lässt sich auch der Sprung von 10 Millionen Franken von 2018 auf 2019 erklären.» Die Vaka schätzt derzeit, dass sich in den Jahren 2019 – 2022 Mehrkosten von 15 Millionen Franken pro Jahr ergeben werden.

Nicht um jedem Preis ein Heim

Das Urteil bedeute nicht, dass die Gemeinden jetzt zu jedem Preis ein Heim finanzieren müssen, sagt Schneeberger. «Aber wir wollen, dass das Urteil umgesetzt wird, auch wenn wir bedauern, dass die Gemeinden die Mehrkosten aufgrund der nationalen Regeln der Pflegefinanzierung allein übernehmen müssen.» Doch wie wollen die Heime zum Geld kommen? Die Kantonsregierung müsse zu diesem Zweck den Betrag für die Pflegenormkosten anheben – «und zwar um rund zehn Prozent und rückwirkend per 1. Januar 2019», sagt Schneeberger. Den Regierungsentscheid erwartet er frühestens im Mai. Auch wenn er später fallen sollte, fordert er einen rückwirkenden Kostenausgleich schon per 1. Januar 2019: «Sollte die Zahlung erst später laufen, müsste sie vorübergehend entsprechend höher ausfallen.»

Restkosten steigen seit Jahren

Die Restkosten schiessen seit Jahren steil in die Höhe (siehe Grafik). Tatsächlich erwartet der Kanton im Finanzplan 2019 eine Steigerung um 10 Millionen Franken gegenüber 2018. Laut Karin Müller, der Sprecherin des Gesundheitsdepartements, ist hier das neuste Bundesgerichtsurteil aber noch nicht eingerechnet. Die Steigerung erfolge aufgrund der erwarteten Zunahme der Pflegetage sowie Tarifanpassungen aufgrund einer Bereinigung des Bedarfserfassungssystems und der Entschädigung für Mittel und Gegenstände (MiGeL).

Barbara Hürlimann, Leiterin der Abteilung Gesundheit beim Kanton, sagt zum Urteil über die Pflegeheimkosten: «Dessen Umsetzung wird dazu führen, dass die stationären Pflegetarife – und damit die Kosten für die Gemeinden für die stationäre Versorgung – deutlich ansteigen werden.» Neu müssten die Gemeinden daher noch stärker daran interessiert sein, dass insbesondere die leicht pflegebedürftigen Patientinnen und Patienten nach Möglichkeit zu Hause gepflegt werden  – ganz im Sinne einer bedarfsgerechten Pflege, so Hürlimann.

Kanton: keine Defizitgarantie

Das Urteil soll zudem nicht einfach dazu führen, dass den Pflegeheimen von den Gemeinden alle ungedeckten Pflegekosten im Sinne einer Defizitgarantie vergütet werden. Bei Heimen mit besonders hohen Pflegekosten werde der Kanton inskünftig überprüfen, ob die Leistungen wirtschaftlich erbracht wurden, betont Hürlimann: «Ist dies nicht der Fall, werden entsprechende Schritte in die Wege geleitet. Entscheidend wird sein, dass die Qualität trotz höherer Effizienz nicht leidet. Ziel ist, dass nur noch wirtschaftliche und qualitativ gute Heime mit der für die Versorgung notwendigen Anzahl Betten auf der Pflegeheimliste stehen», sagt die Gesundheitschefin beim Kanton. Und weiter: «Heute stehen alle Pflegeheime auf der kantonalen Liste. Das ist künftig nicht mehr garantiert.»

Die Drähte zwischen Gesundheitsdepartement, Heimverband Vaka und der Gemeindeammännervereinigung (GAV) laufen derzeit offenbar heiss. GAV-Präsidentin Renate Gautschy sagt, die Last der Restkosten drücke immer mehr: «2011 betrugen diese 41 Millionen Franken. 2020 könnten es 105 Millionen oder noch mehr sein. Das ist fast eine Verdreifachung in zehn Jahren. Das darf so nicht weitergehen.»

Schon bei Bekanntwerden des Urteils sagte Michael Jordi, Zentralsekretär der Kantonalen Gesundheitsdirektoren, in der «NZZ», das «schwer nachvollziehbare» Urteil setze völlig falsche Anreize. Aus seiner Sicht sei es nichts anderes als eine steuerfinanzierte Defizitgarantie für alle Pflegeheime, unbesehen von Wirtschaftlichkeitsvergleichen. «Eine solche Übernahmepflicht eines ungedeckten Kostenblocks würde die öffentliche Hand gegenüber heute massiv stärker belasten.» Gautschy teilt Jordis Auffassung vollumfänglich.

Mehr Geld via Lastenausgleich?

Sie sieht «enormen Auslegungs- und Diskussionsbedarf» und fordert bessere Lösungen. Gautschy denkt laut über neue Finanzierungsmodelle nach. Zum Beispiel, dass sich der Kanton via Lastenausgleich noch mehr an den Restkosten beteiligen müsste. Das sei aber ganz sicher nicht die Lösung, um die Kosten in den Griff zu bekommen. Die Forderung der Vaka, dass die Gemeinden schon per 1. Januar 2019 mehr zahlen sollen, weist sie zurück: «Eine solche oder eine andere Variante wird im Vorstand der GAV erst noch diskutiert werden müssen.» Die Gemeinden hätten in den Budgets 2019 dafür keinen Franken einstellen können.

Klar ist für Gautschy, dass dieser Kostenstreit keinesfalls auf dem Buckel der Bewohnerinnen und Bewohner sowie der Mitarbeitenden der Heime stattfinden dürfe. «Die Betreuungsqualität darf nicht leiden.» Unter dieser Prämisse müsse man auf gegenseitiger Vertrauensbasis alles anschauen, fordert sie: Führung, Qualitätsvorgaben und Standards des Kantons, allfällige Fonds und Rückstellungen der Heime, Quersubventionierungen via überhöhte Betreuungstaxen, und weiteres mehr.

Denn man dürfe nicht erwarten, dass die Steuerzahlerinnen und -zahler via höhere Steuern und auf verschiedenen anderen Wegen – zum Beispiel über Krankenkassenprämien, «Mal für Mal so viel mehr zu zahlen bereit sind».

Nachgefragt bei Alterszentrums-Leiter Jakob Faes: Wo ein Zentrumsleiter bei gleicher Qualität noch Sparpotenzial sieht

Nicht nur die Gemeinden, auch die Heime selbst sind gefordert. Gibt es Potenzial, um bei gleich hoher Qualität effizienter zu werden? Jakob Faes, Leiter des Alterszentrums Mittleres Wynental in Oberkulm, sieht sehr wohl Möglichkeiten. Sein Motto: «Ambulant zusammen mit stationär». Wie meint er das? 2014 wurde die Spitex Mittleres Wynental ins Alterszentrum integriert. Faes: «Damit haben wir einen gemeinsamen Einsatzpool von Pflegenden. Das erleichtert die Einsatzplanung bei Schwankungen der Pflegebedürftigkeit. Und wir können die Ausbildungsauflage in der Spitex ebenfalls erfüllen, was für viele kleine Organisationen kaum möglich ist. Deshalb sage ich: Die Zukunft heisst miteinander.» Weitere Möglichkeiten sieht er in der gemeinsamen Administration, zum Beispiel bei EDV-Lösungen. Faes stellt auch zur Debatte, ob jedes Heim eine eigene Wäscherei und eine Küche braucht, oder ob man je nach Distanzen und Heimgrösse diese da und dort auch zusammenlegen könnte.

Diskutieren könne man zudem über die Qualität der Leistung. Was meint Faes damit, will er diese reduzieren? «Nein, keinesfalls, wir wollen nicht an der Front sparen, das wäre falsch», winkt er energisch ab. Je nach Blickwinkel definiere sich Qualität jedoch anders. Es könne sein, dass ein Mitarbeitender alle für das Reporting des Kantons geforderten Abläufe perfekt beherrscht: «Wenn er aber keine Zeit für Gespräche mit den Bewohnerinnen und Bewohnern hat, bringt ihnen das nichts.» Qualität heisse für sie eben auch, dass man sich täglich Zeit für sie nimmt. Nicht nur für die Pflege, auch fürs Gespräch. Faes: «Das ist auch Qualität, die wollen wir leisten.» (MKU)