
Die älteste Schweizerin stammt aus Reitnau – sie wird am 11.1. 111 Jahre alt
Alice Schaufelberger legt die Zeitung beiseite, zupft den grauen Rock zurecht und schaut hinaus in den Schneesturm vor ihrem Fenster im Winterthurer Altersheim Grünhalde. «Wie früher in Reitnau», sagt sie und streicht sich mit den Händen übers Gesicht. «Als Primarschüler mussten wir jeweils anderthalb Stunden durch Wind und Wetter zum Zahnarzt laufen und dann brav hinhalten, wenn der uns im Mund herumgemacht hat.» Alice Schaufelberger lächelt. Einen Arzt brauche sie heute zum Glück nicht mehr. Eigentlich brauche sie gar nichts mehr, sie sei rundum zufrieden. Nur dass sie so «schüüli alt» werden müsse, das könne sie nicht verstehen.
«Schüüli alt»: Im Fall von Alice Schaufelberger ist das schon fast eine Untertreibung. Die gebürtige Aargauerin feiert heute am 11.1. ihren 111. Geburtstag. Älter als sie ist niemand im ganzen Land. Als sie 1908 in Reitnau geboren wurde, flimmerte der weltweit erste Zeichentrickfilm über die Leinwände, Maizena wurde patentiert und der Grand Canyon unter Naturschutz gestellt. Wenn Alice Schaufelberger an diese Zeit und ihre Kindheit im Suhrental zurückdenkt, dann kann sie kaum glauben, dass sie heute immer noch lebt. «Meine Mutter sagte, ich hätte nach der Geburt in Grossvaters Holzschuh Platz gehabt. Ich war winzig und schwach.»
Doch die kleine Alice kämpfte sich wacker durchs Leben. Der Vater starb früh, die Mutter arbeitete als Weberin, um die drei Kinder durchzubringen. «Wir wohnten oben auf einem Hügel und schauten am Abend jeweils aus dem Fenster. Wenn die Mutter unten auf dem Weg erschien, machten wir Feuer, kochten Wasser und wenn sie dann zur Tür reinkam, gabs frischen Kaffee.»
Im Kleiderschrank hingen zwei Röcke: einer für den Werktag, einer für die Kirche. Auf dem Tisch stand einfache Kost. Schokolade gabs nur an Weihnachten. «Das war wunderbar und gleichzeitig machte es uns traurig, weil wir daran erinnert wurden, was wir alles nicht hatten», erzählt sie.
In Reitnau ging Alice Schaufelberger zur Schule («gerne»), erledigte für die Nachbarn Einkäufe («förnes 20gi»), freute sich das ganze Jahr über auf die Chilbi im Nachbarsdorf Triengen und bewunderte ihre Mutter, die jeweils an Heiligabend die armengenössigen Leute des Dorfes ins enge Stöckli an der Bergstrasse holte und durchfütterte. «Diese Hilfsbereitschaft, die beeindruckt mich bis heute», sagt Alice Schaufelberger. Sie spricht deutlich durch den bald zahnlosen Mund, lächelt freundlich in den wenigen Pausen, die sie sich gönnt. Gebrechen hat sie kaum, ausser dass sie beim Spazieren im Gang zuweilen «chli gwaggle». Aber dann kämen immer sofort nette Leute zur Hilfe, die sie stützten und führten. «Ich kann kaum klagen.»
Auf der Kommode in ihrem Heimzimmer, in dem sie seit bald 20 Jahren wohnt, stehen ein paar Kakteen. Daneben liegen Schokoherzli und die Bibel. «Ich lese gerne darin. Sie gibt mir Kraft», sagt die Greisin. Und Kraft brauchte sie viel in ihrem langen Leben. 1926 zum Beispiel, als sie vom kleinen Reitnau wegzog um im fernen, grossen Zürich eine Verkäuferinnenlehre zu machen und ihre Lebensstelle im Reformhaus Müller anzutreten. Oder 1974, als ihr Ehemann an einem Lungenleiden verstarb. «Das war hart. Ich habe danach nie mehr jemanden kennen gelernt.» Den goldenen Ehering trägt sie noch heute, 45 Jahre nach dem Tod ihres Mannes. Auch Kinder hatte Alice Schaufelberger nie – ausser natürlich der ganze Nachwuchs der Verwandtschaft, auf den sie als Tante immer gerne aufpasste.
Sie braucht nur noch Geduld
Verwandte, die ab und dann zu Besuch kämen, hat sie keine mehr. Die 111-Jährige ist die einzige Überlebende ihrer Zeit. Zuweilen fühlt sie sich ein bisschen einsam. In diesen Momenten spürt sie die kleinen Tücken des Alters, die sich langsam einschleichen. Den «Zitteri» habe sie manchmal, für die Zeitung brauche sie die Lupe und in die Kirche kann sie nicht mehr, weil sie ihren Körper nicht mit diesen harten Holzbänken malträtieren wolle.
«Eigentlich», sagt Alice Schaufelberger, «eigentlich reicht es jetzt langsam.» Wünsche, Ängste, Träume, das habe sie nicht mehr. Alles, was sie noch brauche, sei Geduld, bis dieses wahnsinnig lange Leben irgendwann endlich ausklingt.