
Der letzte Akt der Bundesrätin – wird mit Doris Leuthard noch zu rechnen sein?

Im Moment ihrer letzten Niederlage kann sich Doris Leuthard nicht verkriechen. Die Fernsehkameras surren und die Fotoapparate blitzen, als die CVP-Bundesrätin aus dem Nationalratssaal in die Wandelhalle tritt. Das Bundeshaus entlässt sie nicht aus seinen Fängen, noch nicht, vorerst gibt es kein Entkommen.
An diesem grauen Dezembervormittag muss Leuthard, die Ende Monat nach zwölfeinhalb Jahren in der Regierung abtritt, noch einmal ein grosses Geschäft vertreten. Vordergründig ist es kein guter Tag für die Infrastrukturministerin. Ein hartnäckiger Husten plagt sie, während der Debatte schlürft sie Tee aus einer grossen Tasse. Vor allem aber endet ihr Finale im Nationalrat mit einer Schlappe: Eine unheilige Allianz von links und rechts versenkt das CO2-Gesetz. Die stundenlangen Beratungen sind Makulatur, der Ständerat wird ganz von vorne beginnen müssen. Ausgerechnet jetzt richtet sich die ganze Aufmerksamkeit auf Leuthard. Der Applaus bei ihrer Verabschiedung nach der Debatte ist lang und herzlich, die Ministerin hat feuchte Augen. Eine emotionale Melange.
Natürlich weiss Leuthard genau, welche Botschaften nun ausgesendet werden. Was die Zeitungen schreiben werden. Wie politische Feinde über sie spötteln werden. Zu gut ist die Geschichte von der Energiewende-Bundesrätin, der es bei ihrem Abschied nicht gelingt, die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens durchs Parlament zu boxen. Bitter werde der Honig schmecken, den sie zum Abschied von der Nationalratspräsidentin bekommen hat, frotzeln Kommentatoren auf Twitter. «Die Demontage von Doris Leuthard hat eingesetzt», schreibt SVP-Nationalrat Claudio Zanetti.
Leuthard, 55, befindet sich in diesen Tagen auf grosser Abschiedstournee. Sie hält Ansprachen und nimmt an ihren letzten Bundesratssitzungen teil, sie reist an die UNO-Klimakonferenz in Polen und bekommt unzählige in Cellophan eingewickelte Blumensträusse. Zum Abschlusstermin mit der Bundeshauspresse lädt Leuthard, betont locker, in ein Café – und nicht in die Amtsstuben. Kein Auftritt aber illustriert ihr Wesen so gut wie die Klima-Debatte im Nationalrat, trotz oder gerade wegen der Niederlage.
Denn was tut Doris Leuthard? Sie überstrahlt alles. Man muss das im Wortsinn verstehen: Als sich nach den Beratungen die Journalisten um sie versammeln, lacht die Bundesrätin ihr Strahlefrau-Lachen. Den Misserfolg vertritt Leuthard offensiv, sie will nicht verbittert wirken. In drei Sprachen spricht sie in die Mikrofone, warnt vor einer «dogmatisch-ideologischen Verhärtung» und verweist auf die «Kosten des Nichtstuns beim Umweltschutz».
Gerade nach dem jüngsten Hitzesommer würde es die Bevölkerung kaum verstehen, wenn die Politik einfach nichts tue, sagt Leuthard. Unmittelbar aber sei die Niederlage halb so schlimm, sie habe diese kommen sehen, und nun liege es halt mal wieder am Ständerat, alles besser zu machen. «Ein Scherbenhaufen nützt niemandem», sagt sie. Ihr Lachen hat nun eine ernste Note. Mit dem Scherbenhaufen, so ihre Botschaft, hat sie nichts zu tun.
Machtlust und Kompromisse
Lange hat die Schweiz keine unprätentiösere Bundesrätin mehr gehabt, keinen Magistraten mit einer solchen Ausstrahlung. Leuthards Strahlefrau-Lachen ist legendär; leuchtende Augen, breites Grinsen, glucksende Leichtigkeit. Viel ist in den vergangenen Jahren darüber geschrieben worden. Fast genauso oft wurde auf ihren politischen Instinkt verwiesen, auf ihr Gefühl für den richtigen Augenblick. Die Anwältin aus dem aargauischen Freiamt war immer auch eine Antwort auf den Mangel an charismatischem Führungspersonal in der Schweizer Politik. Das Etikett «Strahlefrau» unterstrich dies, lenkte aber zuweilen von Leuthards grosser Machtlust ab.
Die Debatte zum CO2-Gesetz ist das abschliessende Lehrstück dafür, dieses eine Mal noch ist der Politikstil Leuthards zu bestaunen. Bei Reden vor breitem Publikum eher griffigen Hauptsätzen zugewandt, ist die Bundesrätin im Ratssaal ganz Politik-Handwerkerin. Sie türmt Nebensatz auf Nebensatz, um über subsidiäre Grenzwerte oder massenbilanzierte Biotreibstoffe zu sprechen. Sie kennt alle Mechanismen, alle Zahlen. Bei Detailfragen von Parlamentariern blickt sie fast nie in ihre Akten.
Manchmal sind Leuthards Voten überaus betont, damit sich ja kein Spielraum für Interpretationen auftut. Von einem «Fehler, den Sie gemacht haben» spricht sie vorwurfsvoll, nachdem eine Ratsmehrheit das Inlandziel für die CO2-Reduktion gestrichen hat. Wenn Leuthard sauer ist, lässt sie dies die Nationalräte gern spüren. «Einfach Unfug und schlichtweg nicht nachvollziehbar» seien seine Zahlen zur Erhöhung der CO2-Abgabe auf Brennstoffe, wirft sie SVP-Nationalrat Christian Imark vor. Die Aussage knallt wie ein Peitschenhieb durch den Saal.
Dass weder die linke noch die rechte Ratsseite wirklich zufrieden ist, gehört quasi zum Programm, denn Leuthard versteht ihre Vorlage als Mittelweg. Kein Wunder, will sie lieber einen Neustart für das nunmehr «deutlich abgeschwächte Gesetz». Leuthard habe es stets geschafft, divergente Positionen zusammenzubringen, anerkennen Vertreter aller Lager. Ihr ging es um den Kompromiss als solchen, nicht um verbissene Fragen der Weltanschauung. Bis sich 2017 das Machtgefüge mit der Wahl des rechtsfreisinnigen Ignazio Cassis verschob, war Leuthard im Bundesrat oft die Mehrheitsbeschafferin.
Sinnieren im Tesla
Es ist Dienstag dieser Woche. Doris Leuthard empfängt in ihrem Bundeshaus-Büro, die Gardinen sind zugezogen, soeben hat die Bundesratsweibelin noch die Blumenvasen neu arrangiert. Riesige Aktenberge oder dicke Mappen sucht man in dem Raum vergebens; die technikbegeisterte Politikerin mag es papierlos, das sollen Besucher ruhig merken.
Die Stimmung in Leuthards Generalsekretariat ist melancholisch bis wehmütig, im Courant-normal-Modus strotzt die Schaltzentrale des Infrastrukturdepartements nur so vor Sachlichkeit. In diesen Tagen klopfen immer wieder Angestellte an die massive Tür von Leuthards Büro, um noch einmal ein paar Worte mit ihrer Chefin zu wechseln. Was die Zufriedenheit angeht, erzielte die Bundesrätin bei internen Umfragen immer Spitzenwerte. Als Abschiedsgeschenk haben enge Mitarbeiter für sie eine satirische Zeitung gestaltet. Der fiktive Bericht über eine neue Fernsehsendung namens «Fit mit Doris» findet sich darin ebenso wie eine Karikatur, Leuthard im Superman-Kostüm und mit Krone auf dem Kopf.
Leuthard bittet an den grossen Konferenztisch in ihrem Zimmer, wo sie manche Manöversitzungen im engsten Kreis geführt hat, das Gespräch dreht sich um ihre viel zitierte «Philosophie des Kompromisses und der Konkordanz». Radikalisiert sich der politische Diskurs? Wird das Land zusehends auf Streit gebürstet? Solcherlei thematisiert Leuthard derzeit gern. Europaweit seien nationalistische Kräfte im Aufwind, sagt sie. «Für unser Land aber ist die Polarisierung nicht gut, es braucht den Ausgleich.»
Besonders, dass sich der Nationalrat bei grossen Fragen oft nicht mehr einigen kann, beobachtet Leuthard mit Sorge. «Das erschwert es, Reformen voranzubringen. Man muss eine Fünf auch mal gerade sein lassen, um in einer Sache voranzukommen», sagt die um die helvetische Konsensdemokratie bangende Magistratin und sehnt sich nach «Persönlichkeiten, die sich im Interesse des Landes bei Bedarf von sturen Parteipositionen abgrenzen, die zur Staatsräson mahnen».
Vorankommen, voranbringen: Es sind sorgfältig gesetzte Sätze. Damit nährt sie den Nimbus einer Elder Stateswoman, wobei dieser Ehrentitel eigentlich ein wenig Distanz zum Amt verlangt. Ohnehin will sich Leuthard, die ansonsten partout nicht über ihre Zukunftspläne sprechen möchte, «auf politischer Ebene nicht mehr einmischen». Dabei könnte man sich das doch so gut vorstellen: Wie sie als besonnene Welterklärerin über dem Volk schwebt.
Noch schwebt sie jedenfalls nicht, noch wird sie als Bundesrätin in ihrem Dienstwagen durchs Land chauffiert. Nach dem Gespräch setzt sich Leuthard in den Fond des Tesla S85, dem Luxus-Elektroauto, mit dem sie das Konzept Dienstwagen umgekrempelt hat. Europaweit sorgte die «erste Ministerin mit Tesla» für Schlagzeilen.
Bundesratschauffeur Fritz Hofmann lenkt den fast geräuschlosen Wagen vorsichtig durch die Innenstadt, wegen des Wochenmarkts am Bundesplatz stockt der Verkehr, Passanten huschen mit ihren Weihnachtseinkäufen vorbei. Im Tesla entspinnt sich eine kurze Unterhaltung. Sie freue sich auch, mal wieder in Ruhe einkaufen zu gehen oder in einem Restaurant einzukehren, sagt Leuthard. «Darauf, dass ich bald keine öffentliche Person mehr sein werde.»
Im Blitzlicht der Manager
Nach kurzer Fahrt erreicht Leuthard das Eventlokal «Depot B» im Berner Kirchenfeldquartier. Der allerletzte der letzten Auftritte, mehr Symbolkraft geht nicht: Die Tesla-Ministerin unterzeichnet mit Vertretern von 50 Organisationen und Firmen die «Roadmap Elektromobilität». Bis 2022 soll der Anteil neu zugelassener Elektrofahrzeuge hierzulande auf 15 Prozent erhöht werden. Freiwillige Förderung statt staatlicher Zwang, lautet die Maxime.
Die Umweltministerin betritt die Halle, das Stimmengewirr verstummt. Gestandene Manager zücken ihr Smartphone und machen Fotos. Leuthard schüttelt all die Hände, die sich ihr entgegenrecken, sie lässt sich kurz briefen und läuft dann schnellen Schrittes auf die Bühne. «Uuunsere Bundesrätin», verkündet Jürg Röthlisberger, der Direktor des Bundesamts für Strassen, seine Stimme überschlägt sich fast.
Leuthard hält eine kurze Ansprache, reine Routine zum Ende. Sie erklärt, warum Elektrofahrzeuge zu einem selbstverständlichen Teil des Strassenverkehrs werden müssen. Mit der Roadmap sei man auf dem richtigen Weg, findet sie, lässt ihren Blick durchs Publikum wandern und sagt: «Ein besseres Weihnachtsgeschenk könnte ich mir nicht wünschen.» Begeistertes Nicken in den Stuhlreihen.
Nachdem Doris Leuthard mit dickem Filzstift ihre Unterschrift auf einen überdimensionierten Ausdruck der Roadmap gesetzt hat, wird sie von Teilnehmern umgarnt. Wieder eine Flut von Dankesworten, wieder Schmeicheleien. Einige nutzen nun noch die Gunst der Stunde und sprechen mit ihren Anliegen vor, sogar Visitenkarten werden der Bundesrätin in die Hände gedrückt. Sie gehe ja jetzt, versucht Leuthard zu erklären. Es nützt nichts.