Rücktritt: Wie Doris Leuthard zur Ausnahme-Bundesrätin wurde

Das Buffet war fast fertig angerichtet, die Gäste noch nicht eingetroffen. Nur Doris Leuthard war schon da. Und was machte die Bundesrätin? Sie machte sich an die Arbeit, schritt zum Buffet, entfernte die Frischhaltefolien von den Apérohäppchen und scherzte dabei: «Meine Mutter war schliesslich Wirtin.» Bis die Ständeräte eintrafen, war dann der Apéro wirklich bereit. Es war einer dieser Montage zu Beginn einer Session, wenn sich die Vertreter der kleinen Kammer zum Apéro im Vorzimmer treffen. Die Szene sagt viel über Doris Leuthard aus. Zupackend. Zugänglich. Ohne Allüren.

 

Auch nach 12 Jahren im Bundesrat ist Leuthard noch immer «Eusi Doris». Und das ist nicht despektierlich gemeint, sondern beschreibt einen Teil ihres aussergewöhnlichen Polit-Talents. Auch die beiden SP-Magistraten Simonetta Sommaruga und Alain Berset beherrschen das politische Einmaleins bestens. Doch Leuthard wirkt nie zu kontrolliert, nie zu glamourös. Egal ob in knatterndem Hochdeutsch, breitem Englisch oder im Français fédérale. Egal ob im Gespräch mit Staatschefs, Wirtschaftsbossen oder Büezer. Sie trifft den Ton — und alle fühlen sich wohl.

Die Bürgernahe

Die Transformation von der Politikerin Leuthard zur bürgernahen Doris geschah im eidgenössischen Wahlkampf 1999. Neo-Politikerin Leuthard, sie sass erst seit zwei Jahren im Aargauer Grossrat, kandidierte für National- und Ständerat. Im Zuge der Wahl von Ruth Metzler in den Bundesrat war viel die Rede vom «Metzler-Effekt» in der CVP. Die 36-jährige Leuthard gab selbstbewusst zu Protokoll: «Frauen meiner Generation können und werden sich selber behaupten. Unser Einfluss wird wachsen.» Im Wahlkampf verteilte sie 20’000 Beutel Duschmittel mit ihrem Konterfei und dem Slogan «Erfrischender Aargau». Die «Aargauer Zeitung» machte daraus «Duschen mit Doris» — die Wendung setzte sich in den Köpfen fest. Und Doris Leuthard selbst sagte einmal: «Es war ein Gag, der sehr gut ankam. Seither bin ich für die Aargauer die Doris.»

Die Unbestrittene

Als Doris Leuthard im Bundeshaus ankam, war sie bereits schweizweit bekannt. Kaum als Nationalrätin vereidigt, erschien in der «Schweizer Illustrierten» eine mehrseitige Homestory über ihre Hochzeit mit Jugendfreund Roland Hausin. Es schien, als habe Bundesbern auf die Anwältin gewartet. Zwar ist von Leuthard, deren Vater 20 Jahre im Aargauer Grossrat für die CVP politisierte, bekannt, dass sie bereits als Elfjährige Nationalrätin als Traumberuf angegeben hatte. Doch auf die Karte Politik setzte sie erst, als der Kinderwunsch aus medizinischen Gründen unerfüllt geblieben war.

Ihre politische Karriere begann sie vergleichsweise spät, doch um so fulminanter. Sie, wolle nicht einfach mitschwimmen, sondern crawlen, sagte sie zur NZZ. Oder anders ausgedrückt: «Wenn ich etwas mache, will ich es recht machen.»

Zwei Jahre nach ihrer Wahl in den Nationalrat wurde sie bereits als Parteipräsidentin gehandelt. Sie zierte sich, begnügte sich vorerst mit dem Vizepräsidium. Drei Jahre später — die Partei erlebte mit der Abwahl von Bundesrätin Ruth Metzler gerade ihr grösstes Trauma— übernahm sie schliesslich die Leitung. Eine Alternative zu Leuthard? Die gab es nicht. Genau so wenig wie 2006 bei der Wahl in den Bundesrat. Leuthard war die einzige Kandidatin. Ein Einerticket — heute unvorstellbar, man spräche von Erpressung. Doch Doris Leuthard in Bern — das war auch immer die Unbestrittene.

 

Das spiegelt sich in den vielen Namen, die ihr die Medien in all den Jahren gaben: «Die Strahlefrau», «Die Superfrau», «Die neue Helvetia», «Die Machtmaschine», «Everybody’sDarling», «Die perfekte Mitte der CVP.» Und der L’hebdo machte sie vor ihrer Wahl zur Parteipräsidentin gar zum «Erzengel Doris, der jetzt das Manna der Hoffnung verteilt in einer Partei, die durch die und tiefe Finsternis geht.»

Parteichefin Leuthard verkaufte die Abwahl Metzlers als Chance, dass die CVP mit einer Vertretung im Bundesrat unabhängiger agieren und ihr Profil schärfen kann. «Aufbruch Schweiz» nannte sie das Parteiprogramm. Die CVP sollte eine Alternative sein zu den Angstmachern. Leuthard propagierte den dritten Weg zwischen global entfesselten Marktkräften und dem Bedürfnis der Menschen nach absoluter Sicherheit. Eigenverantwortung gepaart mit Solidarität — diesem Programm ist Leuthard auch als Bundesrätin treu geblieben. Die CVP als Schmiermittel für dieses Land — Leuthard als Inkarnation dessen.

Die Wandelbare
2006 die Wahl in den Bundesrat. Leuthard kommt zwar aus dem katholischen Freiamt, doch sie war die erste CVP-Bundesrätin, die nicht aus den Stammlanden der Partei kam. Ihre Kollegen im Regierungsgremium waren Alphatiere wie Pascal Couchepin, Christoph Blocher oder Michelin Calmy-Rey. Leuthards erste vier Jahre im Volkswirtschaftsdepartement werden wenige in Erinnerung behalten. Klar, sie scheute das Duell mit den Bauern nicht, propagierte den Agrarfreihandel und wurde dafür von Mitgliedern der Bauerngewerkschaft Uniterre mit Gummistiefeln geworfen. Sie sanierte die Arbeitslosenversicherung. Lancierte die Freihandelsabkommen mit Japan und China und wollte mit der Einführung des Cassis-de-Dijon-Prinzip die Preise in der Schweiz senken.

 

Prägender war jedoch Phase Nummer 2 ihrer Regierungszeit: 2010 wechselte sie ins Infrastrukturdepartement UVEK, war fortan verantwortlich für Verkehr, Energie, Umwelt und Medien. Und damit auch für SBB, Post und Swisscom. Mit dem Wechsel ins grössere und bedeutendere Departement manifestierte Leuthard ihren Führungsanspruch im Siebnergremium. Die Konstellation hatte sich seit ihrem Amtsantritt entscheidend geändert: Die SVP war mit nur einem Sitz marginalisiert, die Mitte gestärkt mit BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf und FDP-Magistrat Didier Burkhalter, für den die Parteiräson nicht zählte. Diese Zusammensetzung stärkte Leuthards Rolle als Mehrheitsbeschafferin — mal nach links, mal nach rechts. Eine Periode, die erst mit dem Einzug von Ignazio Cassis 2017 endete.

Als Leuthard ins Uvek wechselte, jubelte die Wirtschaft. Denn die Juristin galt als Verfechterin der Atomenergie. Das Mandat als Verwaltungsrätin der Elektrizitätsgesellschaft Laufenburg trug ihr den Übernamen «Atom-Doris» ein. Mit dem Reaktorunglück im japanischen Fukushima im März 2011 bewies Leuthard jedoch ihre Wandlungsfähigkeit. Und ihren politischen Instinkt. Sie realisierte, dass die Bevölkerung dem Bau neuer Atomkraftwerte auf Jahre hinaus nicht mehr zustimmen würde.

Zunächst sistierte sie alle laufenden Rahmenbewilligungsgesuche für neue AKW und etwas mehr als zwei Monate danach beschloss sie zusammen mit dem Gesamtbundesrat den endgültigen Ausstieg aus der Atomenergie. Sechs Jahre später stimmten knapp 60 Prozent der Bevölkerung für Leuthards Energiewende. Eigentlich opponierte nur die SVP richtig. Mit der neuen Energiestrategie wurden derart viele Geschenke und Subventionen verteilt, dass sich niemand mehr richtig auflehnen mochte. Das gleiche Prinzip wendete Leuthard auch bei den neuen Fonds für die Bahninfrastruktur und die Strassen an.

Der «Tages Anzeiger» beschrieb Leuthars Stil mal wunderbar als «Regieren nach dem Prinzip Aargau». Der Kanton entstand 1803 als Flickenteppich von Napeoleons Gnaden. Der Franzose hatte aus urbanen und ländlichen, katholischen und protestantischen, entwickelten und weniger entwickelten, progressiven und konservativen Stücken einen Kanton geformt. Wer im Aargau etwas erreichen will, muss die Regeln der Konkordanz beherrschen, muss geben und nehmen, Grenzen überwinden und Kompromisse schmieden können.

Die Oberlehrerin
Das konnte Leuthard tatsächlich hervorragend. Und sie konnte ihre Politik auch kommunizieren. Sie hatte Lust an der Macht — und an der Debatte. Die Liste der gewonnen Abstimmungen ist lang — sehr lang. Die begnadete Kommunikatorin erlebte an der Urne nur drei Niederlagen: Darunter die Erhöhung des Vignettenpreises, die das Volk ablehnte und die Annahme der Zweitwohnungsinitiative.

 

Echte Krisen? Sie gab es selten — und wenn, hinterliessen sie keine Kratzer. Dass der Streit mit der EU ausgerechnet in Leuthards Präsidialjahr 2017 eskalierte — die EU anerkannte die Schweizer Börse nur befristet für ein Jahr — daran war die Aargauerin nicht unschuldig. Sie schürte in Sachen Rahmenabkommen falsche Erwartungen. Vorwärts ging es auf Schweizer Seite aber nicht. Die Eskalation habe der Bundesrat zumindest zur Hälfte selbst zu verschulden, sagen selbst bundesratsnahe Kreise. Leuthard jedoch geisselte in einem denkwürdigen Auftritt vor den Medien die EU. Endlich eine Bundespräsidentin, die sich gegen den Druck der EU wehrt — in der Öffentlichkeit blieb nichts an Leuthard hängen.

Als Anfang dieses Jahr der Subventionsskandal um die Postauto AG ans Licht kam, sahen viele Kritiker Leuthards Stern am Sinken. Auch diese Affäre blieb jedoch nicht an ihr, der politischen Verantwortlichen für die Post hängen. Leuthard versprach lückenlose Aufklärung. Die Sache war gegessen. Ihre Kritiker wieder verstummt. Dabei kann man Leuthard tatsächlich vorwerfen, dass sie sich nie einer richtigen Service-Public-Diskussion gestellt hat. Ihr Nachfolger wird sich diesen überall wuchernden staatsnahen Betrieben — von der Post bis zur SRG — stärker annehmen müssen.

Leuthard-Kritiker, die gibt es durchaus: Sie, die Leuthards Auftritt manchmal als arrogant empfinden, die der Aargauerin Kritikunfähigkeit vorwerfen. Dabei wissen aber auch sie: Leuthard weiss wo von sie spricht. Sie kennt ihre Dossiers. Aber tatsächlich, wenn Leuthard sauer ist, dann lässt sie dies selbst Parlamentarier spüren. Gestandene Ständeräte wirken wie Schulbuben, wenn sie von Leuthard abgekanzelt werden — durchaus mit Charme, aber eben auch Kaltblütigkeit.

Und die CVP?
«Merkel ist meine Konstante», scherzte Leuthard einst in einem Interview. Tatsächlich werden die beiden Frauen immer wieder verglichen: Sie gehören zu einer C-Partei, verantworteten den Atomausstieg, hielten mächtige Männer in Schacht. Und wie man sich die CDU nicht ohne Bundeskanzlerin Angela Merkel vorstellen kann, so geht es einem auch mit der CVP ohne Bundesrätin Doris Leuthard. In Fraktionssitzungen liest die CVP-Magistratin selbst ihren Parteikollegen manchmal die Leviten, ihr Einfluss ist gross. Wenn sich Leuthard äussert, dann gilt das meist als abschliessend.

Der Historiker Urs Altermatt zählt Leuthard zum Lager der «ausgleichenden Zentristen». Mit dem Rücktritt von Doris Leuthard braucht die Partei einen neuen Kompass. Dass sich Exponenten der CVP wünschten, Leuthard würde auf ihren Entscheid zurückkommen und über 2019 hinaus in der Regierung bleiben, sagt eigentlich alles über ihre Bedeutung für die Partei aus.