Sex zwischen Bäumen: Wie ein Waldstück zum «Schwulewäldli» wurde

(Bild: Chris Iseli)
(Bild: Chris Iseli)

Sie werden den Parkplatz erwähnen. Sagen, er sei nie leer. Über den Abfall werden sie sich enervieren. Sie wollen sich gar nicht vorstellen, was alles auf dem Waldboden liegt. Dabei denken sie trotzdem an gebrauchte Kondome und zerknüllte Taschentücher. Sie wissen schliesslich, was zwischen den Bäumen im «Schwulewäldli» zwischen Mägenwil und dem Birrfeld passiert. Haben es gehört und weitererzählt. Wahrscheinlich mit einem empörten Unterton. Aber wissen sie es wirklich?

Es ist einer der letzten Spätsommerabende. Kandid Jäger setzt den Blinker, verlässt bei der Ausfahrt Mägenwil die Autobahn. Zusammen mit seinem Kollegen Mauro Lopez ist er unterwegs ins Wäldli. Auf dem Parkplatz rechts und links der Strasse stehen 20 Autos und ein Lastwagen. Kandid Jäger biegt rechts in den Wald ein, parkiert auf der Weggabelung. Er ist Sozialarbeiter bei der Fachstelle Sexuelle Gesundheit Aargau. Die beiden Männer sind präventiv im Wald unterwegs. Sie verteilen Kondome. Versuchen, mit den Männern im Wald ins Gespräch zu kommen, drängen sich aber nicht auf. Sie legen Gay-Magazine aufs Autodach, Kondome und Informationsflyer auf die Windschutzscheibe.

Auf der Suche nach Sex
Mit grossen, gelben Taschen, gefüllt mit weiteren Kondomen, machen sie sich auf den Weg, notieren, wenn sie zwischen den Bäumen einen Mann sehen, wenn jemand einen Pariser nimmt und auch, wenn ihn jemand ablehnt. Viele der Männer im Wald seien nicht schwul oder zumindest nicht geoutet, sagt Kandid Jäger. Sehr oft hätten sie Frau und Kinder zu Hause. Im Wald treffen sie andere Männer, die Sex mit Männern suchen. Umso wichtiger sei es, diese Gruppe von Männern über sexuell übertragbare Krankheiten aufzuklären. Sie zu informieren, wo sie sich testen lassen können, damit sie zu Hause nicht ihre Frauen anstecken und natürlich auch ihre eigene Gesundheit nicht aufs Spiel setzen. Kandid Jäger und Mauro Lopez sind auch offen für «Gesprächsdates», wie sie es nennen. Das Versteckspiel sei für viele Männer belastend. «Es kann eine Erleichterung sein, sich jemandem anzuvertrauen», sagt Kandid Jäger.

Internationale Ausstrahlung
Einfacher ist die Antwort auf die Frage, warum sich die Männer im Wald treffen. Wer seine Sexualität nur im Versteckten ausleben kann, weil er sich vor Angriffen oder Repressionen fürchten muss, braucht einen anonymen, geschützten Treffpunkt. Ein Waldstück, genug weit weg vom nächsten Dorf und trotzdem gut an den Verkehr angeschlossen, ist da gar nicht so abwegig.

Magnus Hirschfeld war ein deutscher Arzt, Sexualwissenschafter und Mitbegründer der ersten Homosexuellen-Bewegung. In seinem Buch «Die Homosexualität des Mannes und des Weibes», das 1914 erschien, beschrieb er solche Treffpunkte – auch in der Schweiz: «Namentlich an bestimmten Stellen der Quais am Vierwaldstätter-, Zürcher-, Genfer- und Luganersee stösst der fremde Urning (Bezeichnung für Schwule, Anm. d. Red.) stets auf gleich empfindende oder zum Verkehr sich anbietende oder bereite Partner.» Als «Sammelstätte von internationalem Ruf» erwähnt er einen Bahnhof in der Schweiz. «Man kann die Zahl derjenigen, die in seinen Hallen Männerbekanntschaften suchen, gering gerechnet auf 20 000 im Jahr beziffern.»

Was damals die Bahnhofshalle war, sind heute Orte wie der Mägenwiler Wald. Der Treffpunkt wird auf einschlägigen Internetseiten ebenso erwähnt wie im «Spartacus», einem internationalen Reiseführer für schwule Männer aus dem Jahr 2010. Darin findet sich unter dem Stichwort «Country Cruising» eine Wegbeschreibung und die Empfehlung, dass sich ein Besuch zwischen 12 und 24 Uhr am meisten lohne.

Im Wald bietet Jäger einem Mann mit Hund ein Kondom an. Er winkt ab. Ist es nicht frech, einfach bei jedem davon auszugehen, er sei auf der Suche nach Sex zwischen den Bäumen? «Fast alle Leute im Wald sind deshalb hier. Spaziergänger mit und ohne Hund, Velofahrerinnen und Reiter meiden das Gebiet schon länger», sagt Kandid Jäger.

Förster können den Wald nicht meiden, und genauso wenig können sie verstecken, dass das Waldstück nicht ihr liebster Arbeitsort ist. Als Förster Peter Schenkel mit dem Geländewagen vorfährt, stehen auf dem Parkplatz nur wenige Autos und ein paar Lastwagen. In der Nacht hat es geregnet, die Sonne hat den Nebel noch nicht ganz aufgelöst. Der Abfall sei ein Problem, sagt der Förster. Früher lagen Spritzen von Drogensüchtigen herum, erzählt sein Vorgänger. In den letzten Jahren habe sich das Abfallproblem allerdings verbessert. Überall entlang der Trampelpfade sind Abfallsäcke aufgestellt. Sie sind gut gefüllt. Die Förster wissen nicht, wer dahintersteckt und die Säcke regelmässig wechselt. Aber sie schätzen es, obwohl immer noch Kondome, Potenzmittel-Verpackungen oder Zigarettenstummel im Gebüsch liegen.

Versuche, Männer zu vertreiben
Auf dem Weg zurück zum Parkplatz kreuzt ein Mann in den Fünfzigern den Waldweg. Splitterfasernackt, in der Hand eine Wasserflasche. Er schaut nicht, sagt nichts, wirkt weder irritiert noch beschämt. Er geht auf einem der Trampelpfade seines Weges, barfuss über den Waldboden, bis ihn die grünen Blätter verschlucken. Was er im Wald sucht und vielleicht findet, bleibt sein Geheimnis.

Die Förster sehen viel im Mägenwiler Wald – ohne eine Wahl zu haben. Müssen sie quer waldein, um Bäume, die gefällt werden sollen, anzuzeichnen, kann es vorkommen, dass ihnen ein Mann folgt und eindeutige Blicke zuwirft. Es ist überliefert, dass in der Vergangenheit Förster und Behörden versuchten, die Männer aus dem Wald zu vertreiben. Die Förster leerten ein Mittel auf die Trampelpfade, das eigentlich an Bäume gestrichen wird, um Wildtiere davon abzuhalten, sich an der Rinde zu reiben. Kommt es in Kontakt mit Kleidung, entwickelt sich ein bestialischer Gestank. Diese Methode ist genauso gescheitert, wie spätere Versuche, den Parkplatz aufzulösen.

Büsche roden, Bäume fällen
Das Vorgehen ist typisch – nicht nur im Mägenwiler Wald. Wenn sich irgendwo ein Treffpunkt etabliert, gibt es Menschen, die sich daran stören. 1999 berichtete das Magazin «Facts» wie der Kanton Zürich «mit hochhygienischen WCs gegen die Schwulenszene auf  Autobahnraststätten» vorging. Auf dem Rastplatz Oberengstringen an der A1 sei das «Geschlechtsverkehrs-Chaos» im Sommer perfekt gewesen. Heterosexuelle sollen sich wegen der Homosexuellen nicht einmal mehr getraut haben, pinkeln zu gehen, und Sonntagsspaziergänger am nahen Limmatufer sahen sich «mit nackten Mannsbildern» konfrontiert. Das Rezept der Zürcher Behörden: Sie schafften millionenteure neue WC-Anlagen an. «Ihre Bauweise reduziert die Attraktivität für Homosexuelle enorm», liess sich der Tiefbaufachmann zitieren. Die Toilettenabteile seien so bemessen, «dass auch bei konformer Ein-Mann-Nutzung nur wenig Platz zum Drehen oder Wenden bleibt». Als flankierende Massnahmen wurden Büsche gerodet und Bäume gefällt. «Eigentlich ein Jammer, die Grünflächen waren ökologische Oasen», sagte der Tiefbaufachmann. Dafür müsse nun niemand fürchten, dass sich «in der Flora Schwule verbergen».

Die Zürcher Idee begeisterte auch im Nachbarkanton. Der damalige Aargauer Polizeikommandant sagte, man werde sich bei einer allfälligen Erneuerung der eigenen Anlagen durchaus von Zürich inspirieren lasse. Einzig der Preis für ein einziges solches WC liess ihn leer schlucken. Für 300 000 Franken baue er ja fast ein Einfamilienhaus.

Geduldet, aber nicht geschätzt
Der Treffpunkt im Aargauer Wald ist geblieben. Die Gemeinde Birr duldet ihn, aber spazieren gehen die Birrer beim Kestenberg. Die Regionalpolizei Brugg führt im Wald regelmässig Kontrollen durch, verteilt Bussen, wenn sie Gesetzesverstösse feststellt. Grössere Zwischenfälle seien aber nicht bekannt. Der letzte Hinweis zum Wald war im Frühling eingegangen. Es sollte eine Sex-Party steigen. «Diese wurde schliesslich verhindert», sagt Polizeichef Heiner Hossli. Auch die Kantonspolizei hat keine Hinweise auf Straftaten, insbesondere Gewaltdelikte. Die letzte Medienmitteilung betrifft Vorfälle im Februar und März 2005.

Damals hatten zwei Täter Männer in sexueller Absicht angesprochen, sie in den Wald begleitet und dort zusammengeschlagen, um an ihre Bankkarte samt Pin zu kommen. Drei solche Überfalle wurden angezeigt. Die Täter gaben aber zu, noch weitere Raubüberfälle begangen zu haben. Ob sich die anderen Opfer meldeten, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich nicht. Die Männer suchen im Wald die Anonymität. Sie wollen nicht in Verbindung gebracht werden mit diesem Ort. Diesem Waldstück neben dem vollen Parkplatz. Mit den Kondomen und zerknüllten Taschentüchern. Mit diesem Ort, über den alle etwas erzählen können und den trotzdem kaum jemand wirklich kennt.

(Bild: Chris Iseli)
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