Das juristische Gewissen der Regierung geht in Pension

Aus der Brusttasche seines Kurzarmhemds zieht er einen Zettel mit handschriftlichen Notizen. Marcel Bolz (64) hat sich auf das Gespräch vorbereitet. Strukturiert, gewissenhaft, rational – so wie er sich die letzten drei Jahrzehnte Woche für Woche auf die Regierungsratssitzungen vorbereitet hat. Zwischen drei Minuten und drei Stunden sass der Leiter des regierungsrätlichen Rechtsdienstes jeweils bei den fünf Regierungsmitgliedern, erklärte ihnen juristische Details, beantwortete Fragen, zeigte drohende Probleme auf. 

«Das juristische Gewissen des Regierungsrats», nennt Regierungssprecher Peter Buri seinen langjährigen Weggefährten. Über Bolz, der ihn mit seiner ruhigen und unaufgeregten Art beeindruckt hat, sagt Buri: «Er ist ein profunder Kenner des Kantons Aargau – seiner Gesetze, seiner Politik und seiner Menschen.» Staatsschreiberin Vincenza Trivigno beschreibt Marcel Bolz als «juristisches Barometer» mit natürlicher Autorität – «ein Auftrumpfen war nie nötig». Und Rahel Ommerli, Leiterin des Parlamentsdienstes, attestiert ihm «ein beeindruckend breites und tiefes Wissen im öffentlichen Recht».

«Nichts Vergleichbares erlebt»

Trotz drei Jahrzehnten in einer der einflussreichsten Positionen der Verwaltung gibt es von Marcel Bolz nur wenige Einträge in der Mediendatenbank. Die Rolle im Hintergrund habe ihn nie gestört – im Gegenteil, wie er sagt. Die Bühne gehörte anderen, nur bei besonders medienwirksamen Fällen äusserte er sich öffentlich, etwa bei der Affäre um den früheren Wohler Ammann Walter Dubler. Auf Wunsch der damaligen Regierungsrätin Susanne Hochuli setzte sich Bolz bei der Medienkonferenz vom Dezember 2016 neben sie, beantwortete Fragen zur Absetzung Dublers durch die Aargauer Regierung. «Gott sei Dank gibt es nur sehr wenige vergleichbare Fälle», sagt Bolz im Rückblick. «Mit dem Entscheid wurde eine demokratisch gewählte Person aus dem Amt entfernt, davor hatte ich grossen Respekt.» Über die Einzelheiten des Administrativverfahrens gegen Dubler will er nicht sprechen, er sei nach wie vor ans Amtsgeheimnis gebunden.

Auch bei der Beurteilung der Beschwerden gegen das Aarauer Stadion-Projekt war die Einschätzung des Juristen Bolz gefragt. Es war einer der anspruchsvollsten Fälle seiner langen Karriere. «Ich habe nichts Vergleichbares erlebt.» Bolz, der sich ab und zu auf dem Brügglifeld ein Spiel anschaut, bezeichnet sich nicht als eingefleischten FC-Aarau-Fan. Das Hickhack um den Stadionneubau beschäftigt ihn dann auch mehr aus juristischer als aus sportlicher Perspektive: «Mir macht das grosse Blockierungspotenzial Sorgen.» Bolz vergleicht die Beschwerde mit einem Messer: «Damit kann man Butter aufs Brot streichen – aber auch jemanden verletzen.»

Ohne ein Wort Deutsch

Mitte Juli hatte Marcel Bolz seinen letzten Arbeitstag, Ende August kommt er offiziell ins Pensionsalter. Er hat sich vorbereitet auf das Leben als Rentner. So weit das überhaupt möglich sei, wie er sagt. Bolz besuchte Veranstaltungen, machte sich Gedanken über das, was nach der Pensionierung kommen könnte. «Verdrängen wäre verhängnisvoll. Seit vier Jahren habe ich mich mit dem Thema beschäftigt, um nicht überrascht zu werden.» Alles verplant hat er trotzdem nicht. Bücher lesen statt Gerichtsurteile, darauf freut er sich. Und: «Endlich nicht mehr von der Agenda fremdbestimmt zu sein.» Doch als es darum geht, einen Fototermin abzumachen, ist der Kalender im Smartphone schon gut gefüllt. «Schöne Pflichten» warteten auf ihn, sagt Bolz. Seine beiden Enkelkinder – eines zwei Monate, eines zwei Jahre alt – kann der dreifache Vater nun regelmässiger hüten.

Mit seiner Frau fuhr er Ende Juli für eine Woche ins Tessin. Die grosse Reise soll dann nächstes Jahr folgen. Nach Argentinien und Uruguay, aber auch in die kolumbianische Hauptstadt Bogota. An den Ort seiner Kindheit, wo er als Sohn einer Kolumbianerin und eines Schweizers aufwuchs. Ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, kam er als 14-Jähriger in die Schweiz. Eine schwierige Erfahrung? Nein, antwortet Bolz. Er habe in der Sekundarschule schnell Anschluss gefunden. Auf die kaufmännische Ausbildung folgte die Erwachsenenmatura, später das Jus-Studium an der Uni Zürich. Beim Aargauer Staats- und Verwaltungsrechtler Georg Müller war er Assistent, bevor er sich 1987 auf das Jobangebot aus dem regierungsrätlichen Rechtsdienst meldete und Aarau auf Dauer zu seiner Heimat wurde – beruflich wie privat.

Auch nach all den Jahren habe er Tag für Tag neugierig in den Posteingang geschaut, sagt Marcel Bolz. «Das Feuer hat immer gebrannt.» Beim Rechtsdienst landen die Beschwerden an die fünf kantonalen Departemente. Bolz spricht von der «Reklamations-Abteilung der Verwaltung». Wer unzufrieden ist mit einem Entscheid – sei dies eine abgelehnte Baubewilligung oder eine misslungene Lehrabschlussprüfung –, kann sich dagegen wehren. Eine Möglichkeit, die von vielen Bürgern geschätzt werde: «Bei mir haben sich Leute dafür bedankt, dass sie ihre Sorgen vorbringen konnten. Einige sagten, es sei das erste Mal gewesen, dass ihnen jemand zugehört habe.»

Apéro mit fünf Regierungsräten

In den 31 Berufsjahren hat Bolz viele Regierungsrätinnen und Regierungsräte erlebt. Manche haben ihm besonders imponiert mit ihren langfristigen Ideen für den Kanton. Namen nennt er auch auf wiederholtes Nachfragen keine. «Ich will nicht, dass sich jemand zurückgesetzt fühlt», sagt er und lächelt.

Justizdirektor Urs Hofmann, der als dienstältester Regierungsrat neben Alex Hürzeler von den amtierenden Ratsmitgliedern am längsten mit dem Leiter des Rechtsdiensts zusammengearbeitet hat, sagt: «Marcel Bolz ging es nie um seine Person, sondern um das Recht.» Bolz, den Hofmann bereits aus seiner Zeit als Anwalt und Grossrat kennt, stehe für «hohe juristische Kompetenz, Unbestechlichkeit und Unparteilichkeit sowie für eine wohltuende Bescheidenheit und Zurückhaltung». Und was er sagte, hatte Gewicht, wie Urs Hofmann festhält: «Sein Ratschlag besass im Regierungsrat einen hohen Stellenwert.»

Wie sehr Marcel Bolz und seine Arbeit geschätzt worden ist, zeigte sich nach der letzten Regierungssitzung: Alle fünf Regierungsmitglieder organisierten für ihn einen Abschiedsapéro.