
Lenzburg gibt es auch in Amerika – doch die Schweizer Variante ist besser



Ennet dem Atlantischen Ozean liegt ein Ort, der gleich heisst, wie unser Lenzburg. Gegründet wurde die Siedlung nicht von einem Sohn aus der Mutterstadt, sondern vom Suhrer Auswanderer Bernhard Steiner vor gut 200 Jahren (die AZ berichtete). Lange blieben die Schwesterstädte in Kontakt. Schweizer trafen im neuen Lenzburg auf Steinersche Nachfahren, das alte Lenzburg erhielt 1956 zum Stadtfest ein Glückwunschschreiben aus Übersee. Dann verloren die beiden Gemeinden einander aus den Augen.
Er war dort
Doch jetzt, Jahrzehnte später, war wieder ein Lenzburger drüben. Hachi Brüngger hat zusammen mit seiner Frau und seiner Sennenhündin einen Abstecher nach Lenzburg gemacht. Die Gemeinde liegt in Illinois, einem unspektakulären Staat im Mittleren Westen. Grösste Stadt ist Chicago, Hauptstadt eine andere. Hachi Brüngger und seine Frau durchquerten die USA auf einem Roadtrip von Los Angeles nach New York. Von seinem Vater habe er gewusst, dass es in Amerika ein Lenzburg gebe. Als er herausfand, dass es an seiner Route von West nach Ost lag, war für Brüngger klar, dass er Lenzburg besuchen musste. «Das müemer go aluege», hatte er zu Frau und Hund gesagt.
In Lenzburg angekommen, posierte Hündin Lucy vor einem Ortsschild. Ausser zwei Wassertürmen ist auf dem Bild nicht viel zu sehen und Brüngger merkte schnell, dass auch nicht mehr viel kommt. «Dort gibt eigentlich fast nichts», sagt er und lacht. «Ein richtiges Nest.» Ein paar Häuser, auf der flachen Prärie verteilt, die Einwohnerzahl bewegt sich um 500. Nach einem Denkmal oder einem Wahrzeichen sucht man vergebens, dafür donnern die Güterzüge mitten durchs Dorf.
«Es gibt eine Barriere und die ist meistens unten», sagt Brüngger. Ob so viel Trostlosigkeit muss er schon wieder lachen. «Dort möchte man nie leben», sagt er. Dennoch wollten er und seine Frau im Ort übernachten, doch im neuen Lenzburg gibt es kein Hotel. Und keine Schule. Auch keine Gemeindeverwaltung. Dafür eine Bar: Babe’s Tavern. Nach der muss man gemäss Brüngger nicht lange suchen. Denn in einem Nest wie Lenzburg trifft man sich an der Bar.
Spurensuche auf dem Friedhof
Die Taverne sieht aus wie Abertausende von Bars in Amerika: viel dunkles Holz, Spielautomaten, ein Billardtisch und Leuchtreklamen für Bier; Bud Light, Miller. In der Taverne wurden Brüngger und seine Frau freundlich aufgenommen. Die bärtigen Gesellen, die mit ihrem Bier an der Theke sassen, liessen sich von zwei dahergelaufenen Europäern zwar nicht aus der Ruhe bringen. Doch der Wirt der Bar zeigte sich interessiert. «Die Leute wussten, dass es in der Schweiz ein Lenzburg gibt», sagt Brüngger. Der Wirt verschwand kurz und kehrte mit einem deutschen Buch über Lenzburg wieder.
Als Brüngger darin blätterte, stiess er auf ein Bild des Schuhmachers Tedesco, der an der Aavorstadt seine Werkstatt hatte. Da sass er nun in einer Bar irgendwo im Hinterland von Amerika und betrachtete ein Bild des Schuhmachers, zu dem er als Kind seine Schuhe gebracht hatte. Brüngger und seine Frau verbrachten ein paar Stunden «Babe’s Tavern», unterhielten sich gut und machten Erinnerungsfotos. Mit dem Wirt ist Brüngger immer noch in Kontakt. Da in der Bar niemand Vorfahren aus der Schweiz vorweisen konnte, hat Brüngger auf der Suche nach der Vergangenheit noch den Friedhof besucht. Dort waren auf vielen Grabsteinen deutsche Namen zu lesen. «Ich hatte gehofft, ein Lenzburger Geschlecht zu entdecken», sagt Brüngger. Doch er fand keines. Die Region wurde von Europäern aus verschiedenen Ländern besiedelt, in der Nähe liegt auch ein New Athens.
Nach einem Nachmittag im neuen Lenzburg machten sich Hachi Brüngger, seine Frau und Hündin Lucy wieder auf den Weg. Der Besuch ist mittlerweile drei Jahre her. Doch Brüngger ist fest überzeugt, dass sich in der Zwischenzeit in Lenzburg in Illinois gar nichts verändert hat.