
Erfolglose Piratenpartei – «Die Leute fühlen sich zu wenig bedroht»
«Der Staat muss draussen bleiben.» Der Spruch klebt auf dem Laptop, über dessen Lautsprecher eine Frauenstimme die Altersvorsorge 2020 erklärt. Während bei anderen Parteien ein Parlamentarier die Abstimmungsvorlagen präsentiert, lassen die Aargauer Piraten das Erklärvideo des Bundes laufen.
Ein Dienstagabend Anfang September, Hotel Gotthard, nahe dem Brugger Bahnhof, Konferenzraum im zweiten Stock. An der Wand hängen Fotos von Blumen und Hasen; am langen Tisch sitzen sechs Männer. Die Piratenpartei trifft sich, um die Parolen für die bevorstehende Abstimmung zu fassen. Piratenversammlung. Wer nicht dabei ist, kann das Geschehen über Twitter verfolgen. Erster Tweet: «Der Vorstand ist vollzählig anwesend. Die #PV172 beginnt piratig pünktlich mit einiger Verspätung.»
Drei Wahlen, null Sitze
Im Aargau ist Wahlherbst, zu spüren ist davon bei der Piratenpartei nichts. Die Gemeindewahlen sind kein Thema. «Uns fehlen die Ressourcen», sagt Präsident Rüedu Sommer, der sich vor zwei Jahren in Nussbaumen als Kandidat für das Amt des Gemeindepräsidenten aufstellen liess. Vorstandskollege und Unternehmer Markus Amsler sagt: «Ein politisches Amt gibt viel zu tun, dafür fehlt mir die Zeit.»
In der Vergangenheit haben sich Aargauer Piraten um Sitze im kantonalen und nationalen Parlament beworben – erstmals bei den Nationalratswahlen 2011, im Jahr nach der Gründung der Aargauer Sektion. 21274 Stimmen gingen an die junge Partei; nur die Schweizer Demokraten und die Sozial-Liberale Bewegung erhielten weniger. Vier Jahre später folgte der zweite erfolglose Versuch. «Eine PR-Aktion», nennt Amsler die Kandidaturen rückblickend. «Wir hatten keine Chance.» Auch bei den Grossratswahlen 2012 gingen die Piraten leer aus; 0,17 Prozent betrug ihr Wähleranteil. 2016 wurden die 140 Sitze im Grossen Rat ganz ohne Beteiligung der Piratenpartei vergeben – trotz der Nomination von vier Mitgliedern. «Weil die verfügbaren Ressourcen keinen sinnvollen Wahlkampf zuliessen, haben dann letztes Jahr die nominierten Kandidaten auf eine Teilnahme verzichtet», erklärt Präsident Sommer.
Parteibudget von 2000 Franken
Die Piraten – eine Partei, die noch nie einen Sitz gewonnen hat, nie in einem Parlament vertreten war, nie direkt Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen konnte. Die Frage nach der Existenzberechtigung liegt da nahe. Eine Frage, die sich die Vorstandsmitglieder selbst auch schon gestellt haben. Im Frühling drohte das Piratenschiff zu kentern. Schatzmeister Amsler bereitete auf die Versammlung vom April hin nicht einmal mehr ein Budget vor. «Ich habe gedacht, die Partei wird aufgelöst.» Auf der Traktandenliste stand deren Zukunft. Doch der Untergang konnte abgewendet, der Vorstand besetzt werden. Gemeinsam erarbeiteten die anwesenden Mitglieder ein Budget – mit 2000 Franken. Nachzulesen im Protokoll, das wie alle anderen Protokolle und die Namen jener Personen, die Beträge über 500 Franken spendeten, frei zugänglich auf der Website zu finden sind.
«Das Thema ist zu wenig piratig»
Die Tür zum Konferenzraum im Hotel Gotthard steht offen. Die Entscheide, die drinnen fallen, gehen sogleich online. Auf die Parolen – drei Mal Nein – folgt die Diskussion darüber, zu welchen politischen Geschäften sich die Partei äussern will. Die Meinungen über die Teilnahme an der Vernehmlassung zur Frage, ob stimmberechtigten Auslandschweizern die Teilnahme an Ständeratswahlen erlaubt werden soll, sind schnell gemacht. «Das Thema ist zu wenig piratig», sagt Vorstandsmitglied Christian Tanner. Seine Kollegen sehen das gleich und sprechen sich gegen eine Stellungnahme aus. Der Begriff «Kernthema» fällt während der Versammlung mehrmals. Digitalisierung, Datenschutz, Urheberrecht zählen zu den zentralen Anliegen der Piraten, denen es im Zeitalter von Google und Facebook weder an Aktualität noch an Relevanz mangelt. Bloss: Die Masse lässt sich dafür nicht erwärmen. Oder wie Christian Tanner sagt: «Unsere Kernthemen interessieren die Bevölkerung nicht gross.» Die Erklärungen der anwesenden Parteimitglieder für dieses Phänomen ähneln sich: Die meisten Bürger sind sich der Gefahren, die im Internet lauern, nicht bewusst und kümmern sich kaum darum, was mit ihren Daten geschieht. Kurz: «Die Leute fühlen sich zu wenig bedroht.»
Teilerfolg dank Tanzverbot
Aus vielen Debatten – darunter emotional aufgeladene wie jene um die Asylpolitik – hält sich die Piratenpartei heraus. Eine Einschränkung, die auch der schmalen Basis geschuldet ist. «Wir haben nicht für jeden Bereich einen Spezialisten und müssen uns deshalb auf einige grosse Themen konzentrieren», sagt Tanner. 495 Follower auf Twitter, 73 aktive, 81 passive Mitglieder, einstellige Teilnehmerzahlen an den Piratenversammlungen. Für den bislang grössten Erfolg brauchte es denn auch einen Kraftakt: 3315 Unterschriften kamen für die Initiative gegen das Tanzverbot zusammen, gesammelt ganz altmodisch mit Papier und Kugelschreiber auf der Strasse. Ein grosser Aufwand für eine kleine Partei. Doch die Initiative brachte den Piraten viel Aufmerksamkeit – und beinahe einen ersten grossen Sieg. 48,2 Prozent der Aargauer Stimmberechtigten sagten im Februar 2016 Ja zu ihrer Vorlage.
Die ausserordentliche Piratenversammlung endet nach gut einer Stunde und mit einem Tweet: «Die #PV172 hat fertig.» Als Partei machen die Aargauer Piraten aber weiter, vorläufig zumindest. Ihre Mission sei noch nicht erfüllt, findet Tanner. «Solange sich die anderen Parteien unserer Themen nicht ernsthaft annehmen, haben wir noch immer eine politische Berechtigung.»