
Zweitälteste Aargauerin: «Ich wurde 106 Jahre alt, weil ich keinen Mann hatte»
Stiftung Dankesberg, Beinwil am See. Die Aussicht ist herrlich, selbst an einem wolkenverhangenen Tag wie heute. Fräulein Wildi ist parat. Die Garderobe mit Bedacht ausgewählt, das Haar von der Coiffeuse gerichtet. Seit sechs Jahren lebt die Menzikerin hier am Hang, mit Blick über den See. Sie ist stolz, dass es ihr vergönnt war, bis ins Alter von 100 Jahren allein in ihrer Wohnung zu leben.
Elsa Wildi ist die zweitälteste Aargauerin. Nur wenige Wochen ist sie jünger als die älteste Person im Kanton, die hier aus Datenschutzgründen nicht genannt wird. Bei einem Besuch erzählt die 106-Jährige aus ihrem Leben – sie, die mit einem Lächeln über sich sagt: «Ich bin so alt geworden, weil ich keinen Mann und keine Kinder hatte.»
Ein Klassik-Fan
Die Musik war ein zentrales Element in ihrem Leben. Ihre Augen strahlen, wenn sie sagt: «Ich habe immer gern schöne Musik gehört – zum Beispiel Opernarien oder Operetten.» Und dann nach einer Pause: «Bloss kein Akkordeon oder Blechmusik.» Sie verzieht das Gesicht. Entdeckt hatte sie ihre Liebe zur klassischen Musik während der Zeit in Zürich. In den zehn Jahren, als sie als Bedienstete bei jener alten, feinen Dame angestellt war, von der sie noch heute sagt, «sie hat mich wie eine Tochter gehalten». In dieser Zeit hatte sie die Welt gesehen – mit einem Jahresabonnement fürs Stadttheater.
Nach Menziken kam sie zurück, nachdem ihr Vater gestorben war. Mitte der 40er-Jahre. «Damit meine Mutter nicht so alleine sein musste», erzählt sie. Die sieben jüngeren Geschwister waren in der Zwischenzeit ausgezogen. Ein Bruder übernahm die elterliche Sattlerei an der Oberdorfstrasse, während sie zur Mutter in die Wohnung über der Werkstatt zog. «Vorübergehend», wie sie damals gedacht habe, sei sie daraufhin «hüetle» gegangen. Das heisst, sie habe in der Hutfabrik Merz eine Stelle angenommen.
«Ich hatte die Herrenhüte unter mir», verkündet sie nicht ohne Stolz. «Sie kamen fertig zu mir und ich habe sie garniert.» Garniert? Elsa Wildi lächelt: «Lederbänder reingenäht, Plissees gemacht.» Sie hatte geschickte Hände. Ihrer Lebtage hat sie genäht und gestrickt. Auch das Kleid, das sie heute trägt, ist selber genäht. Doch das ist schon eine Weile her.
«Das ‹Hüetle› hat mir gut gefallen.» Elsa Wildi strahlt. «So gut, dass ich bis zur Pension geblieben bin.» Nach dem Tod ihrer Mutter habe sie sich eine eigene Wohnung gekauft. Dreieinhalb Zimmer, mit Garten, direkt an der Wyna. Bis 100 habe sie da gelebt. Dahlien. Die imposanten Blumen sind das Erste, was ihr einfällt, wenn sie an ihren Garten denkt. Natürlich gabs auch andere Blumen. Und Gemüse. Bei der Gartenarbeit habe sie oft gesungen. Auch sonst. Sie sei im Kirchenchor gewesen, im ersten Sopran.
Freundschaften fürs Leben
Das mit dem Kirchenchor kam so: Jemand habe sie singen gehört, in Genf, wo sie nach der Konfirmation mit 16 in die Haushaltung eines Zahnarztehepaars kam – und fürchterlich Heimweh hatte. Daraufhin sei sie dem Kirchenchor in Genf beigetreten, später dem in Menziken. «Wieder zu Hause, wollte meine Mutter, dass ich eine Haushaltschule mache», sagt sie. Gesagt, getan. Mit 18 kam sie nach Worb ins Internat. «Das war eine der besten Zeiten meines Lebens», Elsa Wildi lächelt. «Die Arbeit war hart, aber die Freundschaften haben gehalten.» Inzwischen seien aber alle gestorben.
«Man muss das Schöne aus dem Leben mitnehmen», sagt sie. Natürlich sei es nicht immer nur leicht gewesen. Auch das Altwerden nicht. Der Tod der Geschwister etwa. Von den sieben lebten nur noch die beiden jüngsten. Der Bruder komme immer mal wieder auf Besuch vorbei. Die Schwester, die in einem Altersheim in Chur lebe, könne aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr. Dafür rufe sie jeden Abend an. «Um mir gute Nacht zu sagen.»
Mit der Schwester zu telefonieren, das gehe noch. Sonst habe sie zunehmend Mühe, das Gegenüber zu verstehen. Auch die Sehkraft habe nachgelassen. Lesen gehe nicht mehr. Das zu akzeptieren, sei schwer. «Ich war nämlich eine richtige Leseratte», sagt sie und hält inne: «Und ein Reisefüdli.» Fast hätte sie es vergessen. Im Pfadfinderverein sei sie auch gewesen. Viele Jahre lang. Und mit diesem nach der Pensionierung oft verreist. «Bis nach Kreta.»
Noch kein Aargauer, aber eine Aargauerin wurde älter als 110 Jahre. Anna Ringier-Kieser starb im September 2006 im Alter von 110 Jahren und fast 5 Monaten – als damals älteste Schweizerin. Sie lebte in Zofingen. Anna Kieser kam am 12. April 1896 auf einem Bauernhof in Lenzburg zur Welt. 1920 heiratete sie Hans Ringier, der in Aarau als Postbeamter arbeitete. Er starb bereits zehn Jahre später und die 34-jährige Witwe musste die Familie (zwei Kinder) alleine durchbringen. Lesen war ihre grosse Leidenschaft. Zuerst tat sie das im Licht der Petrollampe, dann im Licht der Gaslampe und später bei elektrischem Licht.