Wer im Aargau Heilpädagogin sein will, soll zurück in die Schule

Sonderschulen sollten jenen Kindern vorbehalten sein, deren Beeinträchtigung so gross ist, dass sie von einer Regelschule auch mit Unterstützung nicht profitieren könnten. Die anderen besuchen die Regelschule, mit oder ohne Förderung. So sieht es die «Schule für Alle» vor. Die Realität ist aber eine andere, die Aargauer Sonderschulen sind voll, den Regelschulen fehlen die Möglichkeiten, um mehr Kinder mit speziellen Bedürfnissen aufzunehmen. 

Ein Grund dafür ist der Mangel an schulischen Heilpädagoginnen und Logopädinnen für den Förderunterricht der Kinder und Jugendlichen und für die Beratung der Lehrpersonen. Die Schulen suchten Jahr für Jahr oft vergeblich nach Fachpersonen und müssten sich dann mit Übergangslösungen zufriedengeben, sagt Simona Brizzi, Dozentin an einer Pädagogischen Hochschule und SP-Grossrätin. Diese sehen meistens so aus, dass Lehrpersonen den Förderunterricht übernehmen – manchmal nur kurzfristig, häufig aber für Jahre, weil sich die Situation nicht verbessert.

Fast zwei Drittel ohne Ausbildung

Fachhochschuldozentin und SP-Grossrätin Simona Brizzi

Fachhochschuldozentin und SP-Grossrätin Simona Brizzi

Bild: zvg

Um die angespannte Situation an Sonder- und Regelschulen anzugehen, hat der Kanton das «Projekt Sonderschule» gestartet, das unter anderem eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Schulen vorsieht. Simona Brizzi will jetzt beim Fachkräftemangel ansetzen, denn: «Die Situation an den Aargauer Schulen ist dramatisch. Es fehlen Lehrpersonen, schulische Heilpädagogen und Logopädinnen.»

Aktuell arbeiten im Aargau 369 ausgebildete schulische Heilpädagoginnen und 723 Personen, die keine solche Ausbildung gemacht haben. Das führt Brizzi in ihrer am Dienstag im Grossen Rat eingereichten Motion aus.

Wer ohne entsprechende Qualifikation Unterricht als schulische Heilpädagogin übernimmt, wird heute in den ersten fünf Jahren um fünf Prozent schlechter entlöhnt als eine ausgebildete Fachkraft, danach bekommt man denselben Funktionslohn. «Das ist nicht korrekt und führt dazu, dass falsche Anreize geschaffen werden», so Brizzi. Weiter widerspreche es den Regeln der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK), wenn so vielen Lehrpersonen die konkrete Ausbildung fehlt. Die Grossrätin fordert darum, dass der Kanton hier strikter wird.

Motivation über den Lohn

Lehrpersonen, die aktuell ohne Ausbildung als schulische Heilpädagogen arbeiten, sollen weiterhin den Funktionslohn bekommen, müssten jedoch innerhalb einer bestimmten Frist die Ausbildung – ein Masterstudium an einer Fachhochschule – abschliessen. Wer das nicht tun will, soll zwar weiterhin als Heilpädagogin arbeiten dürfen, jedoch zum Lohn einer Lehrperson. Die Anstellung ohne Ausbildung soll aber immer befristet und die Schulen sollen verpflichtet sein, transparent aufzuzeigen, ob eine ausgebildete Fachperson die Förderung und die Beratung der Lehrpersonen übernimmt.

Die Idee Brizzis wird breit unterstützt. Sie reichte den Vorstoss zusammen mit Grossrätinnen und Grossräten aller Fraktionen ein und geht davon aus, dass die Motion durchkommt. Ihr Anliegen richte sich auf keinen Fall gegen die Schulen oder die Lehrpersonen. Sie habe Verständnis für deren Vorgehen, versichert die Grossrätin, schliesslich machen die Schulen, was sie können. «Diese Lehrpersonen haben häufig langjährige Erfahrung, und sie nehmen ihren Auftrag wahr.»

Doch um die Sonderschulquote im Aargau zu stabilisieren oder zu senken, müsse die Volksschule gestärkt werden, wofür sie eben ausgebildete schulische Heilpädagoginnen brauche. «Sie bringen aus der Ausbildung das Werkzeug und das Wissen mit, sodass Kinder und Jugendliche trotz Schwierigkeiten und Beeinträchtigungen optimal unterstützt und gefördert werden können», so Brizzi. Die Gefahr bestehe, dass Kinder durch die Maschen fallen, wenn ihnen das fehle.

Uriel Seibert fordert Massnahmenbericht

EVP-Grossrat Uriel Seibert.

EVP-Grossrat Uriel Seibert.

Bild: zvg

Grossrat Uriel Seibert (EVP) ist Oberstufenlehrer und Mitmotionär. Er hat zusätzlich ein Postulat eingereicht, das vom Regierungsrat einen Massnahmenbericht fordert. Denn auch Seibert macht sich Sorgen um den Fachkräftemangel. Die Förderdiagnostik als wesentlicher Bestandteil des Förderunterrichts verlange nach Kenntnissen und Fähigkeiten, «welche im Rahmen einer heilpädagogischen Fachausbildung vertieft und in einer Lehrpersonenausbildung in wesentlich geringerem Ausmass erworben werden können», wie es im Vorstoss heisst. Fachkenntnisse seien weiter bei der Zusammenarbeit mit den Eltern und Lehrpersonen elementar.

Der regierungsrätliche Massnahmenbericht soll aufzeigen, wie der Ausbildungsgrad bei der schulischen Heilpädagogik erhöht werden kann. Zudem soll dargestellt werden, wie der Aargau diesbezüglich im Vergleich mit anderen Kantonen dasteht.

Zusammenarbeit der Schulen fördern

«Es braucht vielleicht zusätzliche Anreize, damit jemand die Ausbildung auch tatsächlich macht», sagt Simona Brizzi. Der entsprechende Funktionslohn könne ein solcher sein. Der Aargau würde damit auch nichts Aussergewöhnliches tun, so Brizzi. In den allermeisten Kantonen müssen Lehrpersonen einen von der Erziehungsdirektorenkonferenz anerkannten Hochschulabschluss in Sonderpädagogik haben, wenn sie in der integrativen Förderung, in Einschulungs- und Kleinklassen unterrichten.

Der Fachkräftemangel ist aber nur eins der Probleme, welche zur hohen Sonderschulquote im Aargau führen, das weiss auch Simona Brizzi. «Wir müssen versuchen, das Schritt für Schritt zu lösen», sagt sie. Mit einer Interpellation, ebenfalls am Dienstag eingereicht, möchte sie zudem erfahren, wie die Mittel der Volks- und der Sonderschulen optimaler eingesetzt werden könnten, um die Schulen zu stärken. Das Ziel sei immer das gleiche: eine stärkere, fliessende Zusammenarbeit zwischen Sonder – und Regelschule, denn, so Brizzi: «Jedem Kind steht gemäss Kantonsverfassung eine den Fähigkeiten angemessene Bildung zu.»