Marianne Binder: «Es ist Zynismus pur, ein höheres Rentenalter zu fordern, die Leute dann aber mit 50 zu entlassen»

Zur Person

Marianne Binder (62) aus Baden präsidiert Die Mitte Aargau (früher CVP) und ist Präsidiumsmitglied von Die Mitte Schweiz. Sie ist Kommunikationsberaterin und war früher Kommunikationschefin der CVP Schweiz. 2019 wurde sie in den Nationalrat gewählt, womit ihre Partei einen zweiten Sitz zurückerobern konnte. Zuvor war Binder im Aargau Grossrätin. Sie ist verheiratet und Mutter zweier erwachsener Kinder.

Im aktuellen Konflikt zwischen der Hamas und Israel twittern Sie viel, und klar pro Israel. Woher dieses starke Engagement, das Ihnen nebst Sukkurs auch viele gehässige Kommentare einbringt?

Marianne Binder: Ich bin Mitglied der parlamentarischen Gruppe Schweiz-Israel und twittere nicht unreflektiert „pro Israel“, sondern für Objektivität in der momentanen Eskalation. Israel ist eine Demokratie, ein anerkannter Rechtsstaat westlicher Prägung, dessen Existenz von der Hamas nicht anerkannt ist. Die Hamas, so stuft sie die EU ja auch ein, ist eine Terrororganisation, die Israel und die Zivilbevölkerung mit Tausenden von Raketen beschoss, was Todesopfer forderte. Israels Selbstverteidigungsrecht ist sakrosankt.

Und doch stellt sich die Frage der Verhältnismässigkeit des hochgerüsteten Israel bei der Verteidigung.

Selbstverständlich muss die Verteidigung Israels angemessen sein und dem Völkerrecht entsprechen. Tut sie es nicht, kann das jederzeit kritisiert werden. Die Hamas führt jedoch auf zynische Weise einen Krieg gegen Israel und gegen die Interessen der eigenen Bevölkerung.

Gegen die eigene Bevölkerung? Wie soll ich das verstehen?

Die Hamas missbraucht palästinensische Zivilisten und die zivile Infrastruktur als Schutzschild. Ich erwarte, dass sich der Bundesrat viel klarer für das Selbstverteidigungsrecht Israels positioniert.

Aber gerade weil Israel ein Rechtsstaat ist, wird sein Tun mit einem höheren Massstab gemessen.

Das ist auch richtig so. Legen wir aber einen anderen Massstab an, als wir es gegenüber uns selber oder anderen Rechtsstaaten in solchen Situationen täten, wird es problematisch. Die UNO spricht jährlich mehr Verurteilungen gegen den Kleinstaat Israel aus wegen angeblichen Menschenrechtsverletzungen als gegen alle anderen Länder der Welt zusammen. Das ist doch absurd. Gewiss macht Israel Fehler, etwa mit seiner Siedlungspolitik und Kritik ist legitim. Auch im Land selbst wird kontrovers diskutiert. Israel schafft jedoch das Kunststück, im ständigen Existenzsicherungskampf seine demokratische Ordnung zu garantieren.

Auf beiden Seiten leidet aber letztlich einfach die Zivilbevölkerung.

Ja, es muss eine Lösung geben. Die Opfer auf beiden Seiten sind eine Tragödie. Aber es sind in erster Linie die Hamas und weitere Gruppierungen, die nicht an einer Zweistaatenlösung interessiert ist. Sie steht somit gegen Israels und gegen Palästinas Interessen.

Glauben Sie, dass der Antisemitismus auch in der Schweiz zunimmt?

Man nahm ihn hierzulande viel zu wenig ernst oder ordnete ihn einfach Neonazis mit ihren grauenhaften Parolen zu. Doch es lief mir schon vor Jahren kalt den Rücken hinunter angesichts sogenannter «propalästinensischen» Demos, die in der Schweiz linke Politiker anführten. Samt Boykottaufrufen von Israel und Transparenten, auf welchen die Juden des «Vampirismus» bezichtigt werden.

Sie reichen immer wieder Vorstösse gegen Antisemitismus ein. Woher dieses Engagement?

Meine Grossmutter beherbergte im Zweiten Weltkrieg in ihrem Badener Hotel Rosenlaube jüdische Gäste. Es waren Flüchtlinge, die meine Grossmutter als «Verwandte» ausgab, damit sie in der Schweiz bleiben konnten. Der zuständige Beamte aus Aarau drückte beide Augen zu. Im Wissen um den Holocaust steht für mich fest: Nie wieder! Dafür exponiere ich mich.

Marianne Binder: Bekannte von mir waren ernsthaft betroffen von Corona. Das ist alles andere als eine «normale Grippe»! I

Marianne Binder: Bekannte von mir waren ernsthaft betroffen von Corona. Das ist alles andere als eine «normale Grippe»! I

Alex Spichale

Zu Beginn der Coronakrise haben Sie den Bundesrat kritisiert, etwa als er im Lockdown auch die Gartencenter schloss. Welche Noten geben Sie ihm heute?

Ja, jene Kritik habe ich geübt, und sie hat ja – wenn auch erst spät – gefruchtet. Doch meine Partei stützt die Institutionen. In einer Krise müssen wir zusammenstehen. Was nicht heisst, dass unlogische behördliche Entscheide nicht zu hinterfragen sind.

Zum Beispiel?

Wie erwähnt, etwa die damalige Schliessung der Gärtnereien. Da musste im Frühling verderbliche Ware tonnenweise ohne Not kompostiert werden. Wir alle kennen solche zu wenig durchdachten behördlichen Anweisungen. Sie müssen aufgearbeitet werden.

Es gibt auch grundsätzliche Kritik an den Einschränkungen, manche wollen diese schon lange völlig aufheben.

Ich nehme diese Krankheit ernst. Bekannte von mir waren ernsthaft betroffen. Jemand lag zehn Tage im Koma. Das ist alles andere als eine «normale Grippe»! Ich nehme jedoch auch die Sorgen der Wirtschaft sehr ernst. Nun sind die Ansteckungszahlen stabil, auch ohne Ausgangssperre. Die Schweiz meistert die Krise vergleichsweise gut, aber man muss die Verhältnismässigkeit der Massnahmen aussprechen. Ich bin gegen Maulkörbe.

Dann hätten Sie die unbewilligte Demonstration von Coronaskeptikern in Aarau bewilligt?

Demos in einer Pandemie sind wohl grundsätzlich etwas problematisch. Aber es gab schliesslich auch 1. Mai, Klima und Israel-Palästina-Demos. Selbstverständlich sollen aber auch «Coronaskeptiker» Masken tragen, auch wenn es diesen Leuten nicht passt.

Masken wurden an der Demonstration in Aarau kaum getragen. Hätten Sie diese also bewilligt oder nicht?

Dann sicher nicht.

Haben Sie sich für einen Impftermin angemeldet?

Schon lange. Rundherum bekomme ich nun Selfies von glücklichen Geimpften. Irgendwann werde ich sicher auch noch zum «Stich» kommen…

In einer Woche ist wieder Session. Wie halten Sie es dort?

Wir können uns zweimal wöchentlich testen lassen. Das ist für mich obligatorisch.

Werden dank Plexiglas, Maske und Abstand Ansteckungen effektiv verhindert?

Offenbar. Wir machen auf engem Raum einen grossen Feldversuch beweisen, dass das Schutzkonzept sogar mit 200 Personen funktioniert. Das sollte doch deshalb für Kinos und Theater auch gelten und selbstverständlich angepasst auf die Grösse des Raumes auch bei Restaurants.

Seit einem Jahr leiten Sie Ihre Partei vorab via Zoom. Wie lange kann man so etwas durchziehen?

Das ist eine Herausforderung für alle. Doch wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass wir eine solche digitale Fitness erreichen? Aber mir fehlt der direkte Kontakt zu den Mitgliedern meiner Partei schon sehr.

Hoffen Sie, dass sich das noch vor den Gemeindewahlen in diesem Jahr ändert?

Sehr und dass wir uns bald wieder von Angesicht zu Angesicht unterhalten können. Unterdessen haben wir ja auch als erste Kantonalpartei einen neuen Namen beschlossen. Mit dem neuen Namen signalisieren wir Öffnung, etwa, dass man nicht obligatorischerweise katholisch sein muss, wenn man uns wählt oder bei uns kandidiert.

Akzeptiert Ihre Basis eigentlich den Namenswechsel?

Ich bekam einzelne enttäuschte Rückmeldungen, mehrheitlich waren sie aber klar positiv. Seit dem Namenswechsel in die Mitte Aargau haben ihn unterdessen etwa 85 Prozent unserer Bezirks- und Ortsparteien nachvollzogen.

Zu Corona kommt dazu, dass Sie seit 2019 in Bern politisieren. Hat man da noch genug kantonales Know How für die Leitung einer Kantonalpartei?

Sagen wir es so: Wäre ich zum Zeitpunkt der Wahl in den Nationalrat nicht Parteipräsidentin gewesen, hätte ich mich danach nicht dafür beworben. Aber so lange bin ich nun einmal nicht im Amt und den Schwung der nationalen Wahlen wollte ich für die kantonalen nutzen. Ausserdem funktioniert die Arbeitsteilung zwischen unserem Fraktionspräsidenten im Grossen Rat, Alfons P. Kaufmann, und mir hervorragend. Eben wurde ich als Präsidentin wiedergewählt und freue mich, Die Mitte Aargau in die nächsten Wahlen zu führen.

Marianne Binder: Die Individualbesteuerung brächte eine Verdoppelung oder gar Verdreifachung der Steuererklärungen für jedes Paar.

Marianne Binder: Die Individualbesteuerung brächte eine Verdoppelung oder gar Verdreifachung der Steuererklärungen für jedes Paar.

Alex Spichale

Die grösste «Partei» in den Gemeinderäten, die der Parteilosen (576 von 1055 Gemeinderäten sind aktuell parteilos), ist seit den Wahlen 2017 noch übermächtiger. Ist das ein Problem?

Es zeigt, dass sich viele nicht mehr parteipolitisch binden wollen, sich weder links noch rechts verorten, weniger ideologisch, sondern lösungsorientiert und pragmatisch entscheiden. Sie passen exakt zum Profil unserer Partei.

Aber es geht auch ohne Partei?

Auch Parteilose brauchen Mehrheiten. Es ist in schwierigen Situationen schon von Vorteil, eine Partei hinter sich zu haben.

Sie engagieren sich auf Bundesebene enorm für die Abschaffung der Heiratsstrafe. Doch seit Jahrzehnten geht nichts. Warum kämpft Die Mitte nicht einfach mit FDP und SP für die Individualbesteuerung? So gäbe es endlich für eine Variante eine Mehrheit.

Die Individualbesteuerung brächte enormen administrativen Mehraufwand. Man denke nur schon an die Verdoppelung oder gar Verdreifachung der Steuererklärungen für jedes Paar. Es wäre ein Wahnsinnsumbau des bisherigen Systems der Kantone, die die Heiratsstrafe ja schon längst abgeschafft haben mittels Teil-oder Vollsplitting.

Aber viele sehnen eine transparente Individualbesteuerung herbei.

In Deutschland gilt die Wahlmöglichkeit. 93 Prozent entscheiden sich – wie Die Mitte – für die gemeinsame Besteuerung. In einer Zeit, in der längst beide Partner zum gemeinsamen Einkommen beitragen, darf es doch keine Rolle spielen, wer in welcher Lebensphase wieviel beiträgt. Beide Einkommen zusammengezählt und für die Besteuerung durch zwei geteilt ist modern, gerecht und funktional. So werten wir auch die Familienarbeit auf, die ja längst nicht nur allein Frauen erledigen. Der Bundesrat hat eben dementsprechende Vorstösse von Ständerat Benedikt Würth und mir entgegengenommen.

Ein grosser Streitpunkt bei der anstehenden AHV-Reform ist das Rentenalter 65 auch für Frauen. Wie stehen Sie dazu?

Ich bin für die Anhebung, für gleiche Rechte und gleiche Pflichten, so wie gleicher Lohn für gleiche Arbeit selbstverständlich ist.

Viele zweifeln aber sehr, ob sie in diesem Alter überhaupt noch einen Job hätten.

Da steht die Wirtschaft in der Pflicht. Längere Berufstätigkeit für Frauen zu fordern, ist das eine, ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einbinden das andere. Ältere Arbeitnehmer haben ein grosses Potenzial mit viel Know-how und (Lebens-) Erfahrung. Es ist Zynismus pur, ein höheres Rentenalter zu fordern, die Leute dann aber mit 50 zu entlassen.

Reicht es, ältere Arbeitnehmende einzubinden?

Nein, die Wirtschaft muss Wiedereinsteigerinnen und Wiedereinsteigern auch eine echte Chance geben. Familienarbeit ist keine Biografielücke, es ist ein Managementjob. Genauer handelt es sich um 6,5 Milliarden Arbeitsstunden pro Jahr. Sie sind gesellschaftlich und volkswirtschaftliche gesehen unbezahlbar. Männer wie Frauen bringen erwerben nebst ihrer Ausbildung und der beruflichen Tätigkeit weitere Kompetenzen. Wenn gerade Frauen verächtlich von «Herdarbeit» sprechen, leisten sie sich selbst einen Bärendienst.