Barmelweid-Direktor geht in den Ruhestand – nach über 20 Jahren auf seinem Posten

Zum Gesprächsbeginn hagelt es. Innert Minuten sieht die Juralandschaft rund um die Barmelweid aus, als wäre es Februar und nicht Mai. Kaum ist der Schauer vorüber, verwandeln vorbeiziehende Wolkenfetzen die Aussicht immer wieder neu. «Bei Föhn scheinen die Alpen so nah, dass man glaubt, sie greifen zu können», sagt Beat Stierlin. Ende 2000 wurde er Direktor der Klink Barmelweid auf 800 Metern überm Meer. «Und noch immer fahre ich jeden Tag hier herauf und denke mir: fast wie Ferien.»

Er arbeitet aktuell seinen Nachfolger ein

Die beste Aussicht hatte Stierlin aus seinem Büro im kürzlich erstellten Hauptbau. Doch das hat er schon abgegeben. «An meinen neuen Chef», sagt er lachend. Zwei Monate lang arbeitet Stierlin den neuen CEO, Serge Reichlin, ein. Ende Juni ist Schluss. Dann geht der 62-Jährige in Pension.

Dass er über 20 Jahre auf der Barmelweid bleiben würde, das hätte Stierlin, der sich als «Fossil» unter den Klinikdirektoren bezeichnet, selber nicht geglaubt. «Sicher fünf Jahre» habe er bleiben wollen, «aber dann hat es mir zu gut gefallen, um wegzugehen.»

Eigentlich hat die Barmelweid eine neue Sonnenterrasse. Bei Hagel ist sie allerdings nicht besonders gemütlich.

Eigentlich hat die Barmelweid eine neue Sonnenterrasse. Bei Hagel ist sie allerdings nicht besonders gemütlich.

Foto:Britta Gut

In all diesen Jahren stieg nicht nur die Nebelgrenze («früher waren wir fast immer darüber, heute manchmal mittendrin»), sondern auch der Umsatz: von 20 auf 70 Millionen Franken. Die Mitarbeitenden von 250 auf 750. Die Betten von 130 auf 285, die Pflegetage von 40’000 auf 85’000.

«Nur die Aufenthaltsdauer unserer Patientinnen und Patienten beträgt unverändert durchschnittlich drei Wochen. Heilung braucht offensichtlich auch in unserer relativ schnelllebigen Gesellschaft noch immer Zeit.»

Im Gegensatz zu früher seien die Krankenkassen jedoch weitaus weniger grosszügig beim Bezahlen dieser Klinikaufenthalte. «Deshalb kann ich das Bashing der Spitäler als Kostentreiber im Gesundheitswesen nicht nachvollziehen – es sind eher Pharma-, Beratungs- oder/und IT-Unternehmen, die viel Geld verdienen.»

Seine Laufbahn begann mit dem KV

In Zürich geboren, kam Stierlin mit seinen Eltern im Primarschulalter nach Rombach. Seither hat er immer in der Region gelebt – von einem Jahr Weltreise abgesehen. Nach Jahrzehnten im Suhrer Feld-Quartier zogen Beat Stierlin und seine Frau 2013, als die Kinder ausgeflogen waren, über die Tramstrasse nach Buchs. Attikawohnung statt Einfamilienhaus mit Umschwung.

«Ich wollte nicht mehr jeden Samstagnachmittag Rasen mähen.»
«Bei Föhn scheinen die Alpen so nah, dass man glaubt, sie greifen zu können», sagt Beat Stierlin über die spektakuläre Aussicht von der Barmelweid.

«Bei Föhn scheinen die Alpen so nah, dass man glaubt, sie greifen zu können», sagt Beat Stierlin über die spektakuläre Aussicht von der Barmelweid.

Foto: Britta Gut

Nach dem KV bei Richner Baubedarf machte Stierlin die Ausbildung zum Betriebsökonomen, später dann Nachdiplomstudium und Master. Er stieg bei der Rotkreuzschule für Krankenpflege (heute «Careum» an der Aarauer Mühlemattstrasse) ein, wechselte dann in die Abteilung Finanzen und Controlling eines grossen Zürcher Gastronomie-Unternehmens, wo er unter anderem mit Klinikgastronomie zu tun hatte. Das weckte die Lust auf einen Branchenwechsel: Stierlin bewarb sich als neuer Barmelweid-Direktor und konnte den Verwaltungsrat – damals schon unter Präsident Daniel Heller – überzeugen.

Er war der erste Nicht-Mediziner auf dem Direktorenposten

Die Anstellung war ein Tabubruch. Denn bis dahin war der Klinikdirektor immer ein Chefarzt gewesen. «Dass es nun ein Betriebswirtschafter sein soll, hat manche Chefärzte irritiert», sagt Stierlin. Dass gleich danach die Rechtsform des Klinikbetriebs von einem Verein auf zwei Aktiengesellschaften wechselte, sorgte zusätzlich für Unsicherheit. «Die Mitarbeitenden fürchteten, dass künftig das Geld mehr zählen würde als alles andere.» Doch er habe schnell gemerkt, dass die Finanzen zwar wichtig seien; motivierte Mitarbeitende, die direkt mit den Patientinnen und Patienten arbeiten, aber noch mehr.

«Das fasziniert mich an der Gesundheitsbranche. Ich wollte nie CEO einer Schraubenfabrik werden und jedes Jahr ein paar tausend Schrauben mehr verkaufen.»

Chef sein mit Teilzeitpensum? Das geht

Und noch etwas war speziell am neuen Direktor: «Ich leiste mir seit jeher den Luxus eines 80-Prozent-Pensums. Dadurch konnte ich auch unsere drei Kinder mitbetreuen; meine Frau arbeitete immer als Lehrerin. Noch heute sagen mir viele Kollegen in ähnlichen Positionen, dass sie das auch gerne würden, aber nicht könnten. Es geht, sage ich – aber natürlich musste ich oft auch in meiner Freizeit etwas Berufliches erledigen.» Auch deshalb freue er sich auf die Pensionierung; «auf Wochenenden ohne E-Mails und Protokolle».

Die Barmelweid befindet sich auf 800 Meter überm Meer und gehört zum grössten Teil zur Gemeinde Erlinsbach AG. Nur eine kleine Ecke des Klinikgeländes liegt schon im solothurnischen Erlinsbach.

Die Barmelweid befindet sich auf 800 Meter überm Meer und gehört zum grössten Teil zur Gemeinde Erlinsbach AG. Nur eine kleine Ecke des Klinikgeländes liegt schon im solothurnischen Erlinsbach.

Foto. Michael Küng

Während sich Stierlins Vorgänger, Roland Keller, noch «mehrmals vehement gegen politische Angriffe auf die Barmelweid wehren musste», wie diese Zeitung zu dessen Verabschiedung schrieb, segelte die Klinik seit Stierlins Amtsantritt weitgehend unter dem Radar der Politik.

Im Gegensatz zum Ende der 1990er-Jahre, als ein Bettenhaus-Neubau in eine Diskussion um die Existenzberechtigung der Barmelweid gipfelte, konnten das nun kürzlich fertiggestellte Bettenhaus sowie die Sanierung der gesamten Infrastruktur (Kostenpunkt: über 120 Mio. Franken) ohne Widerstand erstellt werden. Nicht einmal Einsprachen gab es. Stierlin sagt:

«Wir wurden auch deshalb in Ruhe gelassen, weil wir früh auf Qualität gesetzt haben. Es ist uns gelungen, die Klinik zu einem modernen Spital in intakter Natur sowie zu einem anerkannten und unverzichtbaren Leistungserbringer in der Nordwestschweiz zu machen.»
Gegen den Neubau des Bettenhauses (das Bild stammt von den Bauarbeiten im März 2019) ging keine einzige Einsprache ein.

Gegen den Neubau des Bettenhauses (das Bild stammt von den Bauarbeiten im März 2019) ging keine einzige Einsprache ein.

Foto: Chris Iseli

Obschon politische Angriffe ausblieben – Stierlin hatte viel zu tun. Die Barmelweid – «im Gegensatz zu anderen Aargauer Kliniken nicht too big to fail» – habe agil bleiben und sich neuen sowie veränderten Marktsituationen anpassen müssen. Mittlerweile ist sie ein mittelgrosses Spital mit Akutbereich, Reha und Langzeitpflege (Geriatrie) sowie mit der grössten Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Schweiz. Ganz neu hat sich die Barmelweid, im Sinne ihrer Gründungstradition als Lungenheilanstalt, in der Behandlung von Long-Covid-Patienten profiliert.

Die Barmelweid ist sowohl im Akutbereich als auch in der Reha und der Langzeitpflege tätig.

Die Barmelweid ist sowohl im Akutbereich als auch in der Reha und der Langzeitpflege tätig.

Foto: Chris Iseli

Seiner Pensionierung sehe er «mit der ganzen Palette der Gefühle entgehen», sagt Stierlin. Einige seiner Mandate, die nicht an den Posten als Klinikdirektor gebunden sind, wird Stierlin behalten. Was sicher nicht neu dazu kommt: ein politisches Amt. «Ich bin ein politischer Mensch, aber ich konnte mich nie für eine Partei entscheiden.» Langweilig werde es ihm nicht.

«Wir haben uns bereits verpflichtet, einen Tag pro Woche unsere drei Enkel im Alter zwischen zwei Monaten und vier Jahren zu hüten – das wird also arbeitsintensiv. Und wir freuen uns darauf, wieder längere Reisen zu unternehmen, sobald Corona es erlaubt.»