55-Jährige landen im Spital und 25-jährige Grosskinder werden geimpft: Wie fair ist die Aargauer Impfstrategie?

 

Prioritär geimpft wird auch das Gesundheitspersonal. So wird verhindert, dass Pflegefachmänner oder Ärztinnen ausfallen, weil sie an Covid-19 erkranken. Indirekt wird damit auch die Gesundheitsversorgung sichergestellt – das zweite Ziel der Schweizer Impfstrategie.

Wo jemand arbeitet, lässt sich leicht überprüfen

Dass diese Personen prioritär geimpft werden, ist nachvollziehbar. Es lässt sich ohne viel Aufwand überprüfen, ob jemand zu dieser Personengruppe gehört oder nicht. Das Geburtsdatum oder ein Mitarbeiterausweis schaffen Klarheit.

Vorrang haben aber auch pflegende Angehörige oder Haushaltsmitglieder von besonders gefährdeten Personen, auch wenn sie noch so jung sind. Ob und wie intensiv sich jemand tatsächlich um seine Angehörigen kümmert, können die Mitarbeitenden in den Impfzentren nicht überprüfen. Sie müssen sich darauf verlassen, dass ihnen die Person die Wahrheit sagt und nicht einfach Grosseltern vorschiebt, um schneller geimpft zu werden.

Die Impfung schützt, das Alter als Risikofaktor bleibt

Das BAG und die Eidgenössische Impfkommission haben diese Schwierigkeit erkannt. Sie empfehlen in ihrer überarbeiteten Impfstrategie vom 14. April, die pflegenden Angehörigen und die restliche Bevölkerung gleich zu behandeln und dafür in altersabsteigenden Gruppen zu impfen.

Das BAG und die Impfkommission gewichten das Alter einer impfwilligen Person also höher, als den Umstand, dass sie sich um Angehörige aus einer Risikogruppe kümmert. Sie argumentieren, besonders gefährdete Personen seien durch die Impfung «sehr gut geschützt». Ausserdem steige das Risiko für eine schwere Erkrankung mit zunehmendem Alter.

Die Argumente sind einleuchtend. Von den Nachbarkantonen setzen Zürich, Luzern, Zug sowie die beiden Basel die Empfehlung um. Dort haben alle 50- bis 64-Jährigen gleichzeitig Zugang zur Impfung – unabhängig davon, ob sie sich um Angehörige kümmern oder nicht.

In den Schulen wurden die Spielregeln geändert

Anders der Aargau: Er setzt die Empfehlung nicht um. Das führt dazu, dass der 20-jährige Enkel, der angibt, seine 75-jährige Grossmutter zu pflegen, geimpft wird, dagegen die 64-jährige Frau, die alleine lebt, oder der 55-jährige Familienvater warten müssen. Obwohl Letztere ein nachweislich höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben.

Impfchef Andreas Obrecht sagte zu dieser Zeitung, es wäre nicht fair, «die Spielregeln mitten im Spiel anzupassen». Die Bevölkerung habe sich darauf verlassen, dass im Aargau nicht nach Alter priorisiert werde. Es stimmt: Von einer Priorisierung nach Alter war – ausser bei den über 65-Jährigen – ursprünglich nicht die Rede.

Es war aber im Januar auch nie die Rede davon, über 50-jährige Lehrerinnen und Lehrer zu priorisieren. Trotzdem hat sich Gesundheitsdirektor Gallati Anfang April dafür entschieden und die Spielregeln damit «mitten im Spiel» angepasst. Impfchef Obrecht begründete diesen Entscheid sogar mit dem «exponentiell steigenden Risiko für einen schweren Verlauf ab einem Alter von 50/55 Jahren».

Über 50-Jährige müssen häufiger ins Spital

Nach dieser Aussage ist es nicht nachvollziehbar, warum der Aargau seine Strategie nicht anpasst, werden mit dieser doch schwere Krankheitsverläufe bei den über 50-Jährigen in Kauf genommen.

Diese schlagen sich auch in den Zahlen nieder. Seit ein grosser Teil der über 80-Jährigen geimpft ist, landen anteilsmässig deutlich weniger wegen einer Covid-Infektion im Spital. Dafür müssen anteilsmässig immer mehr 40- bis 59-Jährige im Spital behandelt werden.

Trotzdem halten die Verantwortlichen stur an ihren Spielregeln fest. Dabei müssten sie genau diese Spielregeln bei einer Priorisierung der älteren Personen nicht einmal ändern. Sie könnten sich auf die übergeordneten Ziele der Schweizer Impfstrategie berufen: Leben retten und die Gesundheitsversorgung sicherstellen.

Diese Ziele werden am ehesten erreicht, wenn jene Personen möglichst schnell geimpft werden, die das grösste Risiko haben, schwer zu erkranken. Das sind nicht die 25-Jährigen, die betagte Angehörige pflegen, die bereits zweimal geimpft sind. Es sind die über 50-Jährigen. Und zwar alle.

Die Impfung sei aus heutiger Sicht der einzige gangbare und sichtbare Ausweg aus der Pandemie, sagte Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati am 5. Januar, als die Impfkampagne im Aargau offiziell gestartet wurde. Die Impfung ist auch vier Monate später der einzige sichtbare Ausweg aus der Pandemie geblieben. Zwei Spritzen in den Oberarm sind die Hoffnung auf Normalität. Auf ein Leben ohne Einschränkungen und ohne Angst, krank zu werden oder jemanden wegen Covid-19 zu verlieren.

Bis am Dienstagabend haben 158’239 Aargauerinnen und Aargauer eine erste Impfdosis erhalten. 84’129 sind zweimal geimpft. Jede Woche sind mehr Impfdosen verimpft worden. Inzwischen sind es fast 30’000 Dosen:

 

 

Trotzdem warten aktuell 107’000 Aargauerinnen und Aargauer darauf, in einem Impfzentrum geimpft zu werden – einige von ihnen haben sich bereits im Januar registriert. Aber die Verfügbarkeit des Impfstoffes diktiert das Tempo und ist auch der Grund, warum (noch) nicht alle geimpft werden, die sich impfen lassen wollen, sondern erst, wer dazu berechtigt ist.

Wer bei der Impfung Vorrang hat, haben das Bundesamt für Gesundheit (BAG) und die Eidgenössischen Kommission für Impffragen in der Covid-19-Impfstrategie festgehalten. Sie haben sich dabei überlegt, wie die drei übergeordneten Ziele – trotz wenig Impfstoff – erreicht werden können.

1. Die Impfung soll schwere und tödliche Krankheitsverläufe vermindern

2. Die Impfung soll das Gesundheitswesen vor dem Kollaps bewahren

3. Die Impfung soll längerfristig dazu führen, dass die Einschränkungen in Wirtschaft und Gesellschaft aufgehoben werden können.

Mit der Priorisierung nach Alter wurden Leben gerettet

Dass über 65-Jährige und Menschen mit Vorerkrankungen beim Impfen höchste Priorität haben, liegt daran, dass sie ein deutlich höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben. Der Impfeffekt ist bereits deutlich erkennbar: Seit alle impfwilligen Pflegeheimbewohnerinnen und Pflegeheimbewohner im Aargau zweimal geimpft sind, kommt es dort kaum noch zu Todesfällen. Anders gesagt: Mit der Priorisierung nach Alter wurden Leben gerettet.