«Am Gotthard macht man das ja auch»: Sollen Aargauer A1-Ausfahrten bei Stau gesperrt werden?

Die St.Galler Gemeinde Bad Ragaz fordert vom Bundesamt für Strassen (Astra), auf der A13 bei Staus, die etwa am Sonntagabend beim Ferien-/Wochenende-Rückreiseverkehr entstehen, die Ausfahrten zwischen Chur und Sargans zu sperren. Dies, weil dann jeweils viele Automobilisten (vorab Touristen) den Weg durch Dörfer und gar über Feldwege suchen, um den Stau zu umfahren. Mehrere Bündner Dörfer unterstützen das Anliegen, wie das Portal FM1today berichtet.

Viele Stausituationen gibt es auch im Aargau auf der A 1 und entsprechenden Umwegverkehr durch Ortschaften parallel zur Autobahn. Wäre der Ruf nach so einer drastischen Massnahme auch hier denkbar?

Vor den Toren von Baden dosiert eine Pförtneranlage an der Mellingerstrasse die Zufahrt in die Stadt.

Vor den Toren von Baden dosiert eine Pförtneranlage an der Mellingerstrasse die Zufahrt in die Stadt.

Daniel Vizentini

VCS fordert genaue Daten, auch Sperrungen im schlimmsten Fall denkbar

Im Aargau entstehen Stausituationen meist in den beruflichen Rushhours, nicht am Sonntagabend durch Touristen. Doch das Problem besteht auch hier. VCS-Aargau-Präsident Jürg Caflisch kennt die Situation sowohl im Bündner Rheintal als auch im Aargau: «Das ist für die dort lebenden Menschen eine Zumutung.» Er fordert jetzt, im Aargau genau zu erheben, welche Ortschaften wann und warum in welchem Ausmass von Stau-Ausweichverkehr betroffen sind, um für Massnahmen eine gute Datengrundlage zu haben.

Jürg Caflisch, Präsident des VCS Aargau.

Jürg Caflisch, Präsident des VCS Aargau.

Chris Iseli

Um die Lebensqualität dieser Ortschaften zu schützen, fordert er aber schon jetzt Dosiersysteme, Pförtneranlagen, wie es sie an der Mellingerstrasse in Baden schon lange gibt: «Es darf keinesfalls geschehen, dass ein Stau durch Ausweichen auf Dörfer aufgelöst wird.» Auch punktuelle Sperrungen von Ausfahrten sind für Caflisch im schlimmsten Fall denkbar – «am Gotthard macht man das ja auch». Wobei er vorher wissen will, inwieweit Ziel-Quell-Verkehr mitbetroffen wäre, der im Aargau deutlich höher ist als in touristischen Gebieten.

Da müsste man dann, so Caflisch, abwägen zwischen dem Nutzen (Ausweichverkehr verhindern) und dem Schaden (wenn deshalb regionaler Verkehr nicht mehr ans Ziel kommt). Generell wehrt er sich gegen weitere Strassenausbauten, «weil diese bloss zusätzlichen Verkehr anziehen und das Problem nur verlagern, statt es zu lösen, was angesichts der heutigen Klimasituation erst recht unverständlich ist».

TCS: Situation im Aargau nicht vergleichbar mit Tourismusregion

Ganz anders sieht dies Patrick Gosteli. Ihm sei weder in seiner Funktion als TCS-Präsident noch als Präsident der Gemeindeammännervereinigung zu Ohren gekommen, dass der Umwegverkehr bei Stau auf der Autobahn ein grosses Problem wäre, sagt er. Die Situation im Aargau sei auch nicht vergleichbar mit der A13 im Bündner und St.Galler Rheintal oder in Göschenen, wo vor allem touristischer Umwegverkehr das Problem ist.

Patrick Gosteli, Präsident des TCS Aargau.

Patrick Gosteli, Präsident des TCS Aargau.

Fabio Baranzini

«Gewiss gibt es auf der A1 immer wieder Stau, oft aber nicht nur wegen Verkehrsüberlastung, sondern nach Verkehrsunfällen. Das Problem taucht entsprechend immer wieder an einem anderen Ort auf.» Komme dazu, dass Studien gerade zum Raum Baden-Wettingen zeigen, dass der Anteil Ziel-Quell-Verkehr sehr gross ist. Von der Sperrung einer Ausfahrt bei Stau, um Umwegverkehr zu verhindern, hält Gosteli aber ohnehin gar nichts.

Flüssigerer Verkehr dank Temposenkung bei hohem Aufkommen

Nützlich könnte indes das System zur Geschwindigkeitsharmonisierung und Gefahrenwarnung sein, mit dem man das Verkehrsaufkommen analysiert, sagt Gosteli. Nimmt der Verkehr zu, wird das Tempolimit schrittweise auf 100 oder 80 km/h gesenkt. So bleibt der Verkehr letztlich flüssiger und auch die Sicherheit werde verbessert. Das erhöhe auch die Berechenbarkeit der Fahrdauer.

Bestätigt wird dies durch ein Monitoring des Bundesamts für Strassen (Astra) auf der A14 zwischen Luzern und Zug, wo dieses System installiert ist. Staus hätten sich dort um 60 Prozent und stockender Verkehr um 25 Prozent reduziert. Längerfristig helfe auf der A1 aber nur ein Mittel zur Verkehrsverflüssigung, betont Gosteli, «nämlich der dringende durchgehende Ausbau im Aargau auf sechs Spuren».

Kanton: Ausweichen ist ein seit längerem bekanntes Phänomen

Wie Patrick Gosteli betont auch Götz Timcke, Leiter strategische Planung in der Abteilung Verkehr des kantonalen Verkehrsdepartements, die Situation auf der A13 zwischen Sargans und Chur sei nicht mit den Situationen im Aargau vergleichbar. Der Verkehr auf der A13 sei stark geprägt durch touristische, saisonal ausgeprägte Verkehrsspitzen. Es sei zudem davon auszugehen, dass infolge der Covid-19-Pandemie der Ziel- und Quellverkehr sowie der Schweizer Binnenverkehr zugenommen haben. So verbringen die Menschen vermehrt Ferien und suchen Naherholung in der Schweiz, etwa im Bündnerland.

Kanton: Druck auf Kantonsstrassen wird erst mit 6-Spur-Ausbau abnehmen

Aber, so Timcke weiter: «Im Aargau ist aufgrund der ausgewiesenen Engpässe auf der A1 eine vergleichbare Situation, also das Ausweichen auf das nachgelagerte Kantonsstrassennetz, seit längerem ein bekanntes Phänomen.» Der Druck auf die Kantonsstrassen werde erst mit dem 6-Spur-Ausbau der Autobahn abnehmen.

 

Ergänzend dazu sollen dereinst zwischen Birrfeld und Baden-West sowie zwischen Aarau Ost und Aarau West die Pannenstreifen in den Hauptverkehrszeiten für den Verkehr freigegeben werden. Für allfällige Pannenfahrzeuge sind Notbuchten geplant.

Kanton: Punktuelle Sperrungen kommen nicht in Frage

Punktuelle Sperrungen von Ausfahrten kommen für den Aargau nicht in Frage, macht Timcke deutlich: «Anschlüsse haben entlang der A1 auch eine regionale Bedeutung. Sperrungen würden die Erreichbarkeit der Klein- und Mittelzentren im Aargau erschweren und zudem zu grösserem, unerwünschten Ausweichverkehr führen, was kontraproduktiv wäre.»

Der Kanton Aargau habe im Zuge der Neuklassierung des Kantonsstrassennetzes darauf geachtet, dass die Nationalstrassenzubringerstrecken leistungsfähig sind und bedarfsweise ausgebaut werden. Als Beispiel nennt Timcke den eben erst dem Betrieb übergebenen A1-Zubringer Lenzburg und die Bünztalstrasse mit Knotensanierungen.

Die Überprüfung der Leistungsfähigkeit der Autobahnanschlüsse durch das Astra ist seit längerem im Gange, Projekte werden in Absprache mit dem Kanton entwickelt und umgesetzt. Als Beispiel nennt Timcke den Direktanschluss in Lenzburg Richtung Zürich.

Ausfahrtsverlängerungen verflüssigen den Verkehr

Die verlängerte Autobahnausfahrt Aarau Ost in Fahrtrichtung Bern auf der A1.

Die verlängerte Autobahnausfahrt Aarau Ost in Fahrtrichtung Bern auf der A1.

Sandra Ardizzone

Die vom Bundesamt für Strassen (Astra) baulich umgesetzten Ausfahrtsverlängerungen auf der A1 wie bei der Ausfahrt Aarau Ost führen laut Timcke dazu, dass der Verkehrsfluss durch einfahrende Fahrzeuge weniger gestört wird. Sein klares Fazit: «Wirkung positiv.» Die weitergehenden, betrieblichen Massnahmen auf der A1 (Geschwindigkeitsharmonisierung und Gefahrenwarnung) dienten zusätzlich der Sicherstellung des Verkehrsflusses auch bei hohen Auslastungen.

Der Aufrechterhaltung des Verkehrsflusses bei hohen Auslastungen dienen auch die im Limmattal (Dietikon) eingeführten «Ausfahrtsdosierungen». Die Dosierung sorgt dafür, dass nicht zu viele Fahrzeuge gleichzeitig auf die A1 wollen. Auf Aargauer Gebiet ist auf der Autobahn allerdings noch kein solches Dosiersystem geplant.

6-Spur-Ausbau im Aargau kommt Ende 2023 in den Bundesrat

Jahrelang kämpfte der Aargau für einen vorgezogenen Ausbau der A1 im Aargau auf sechs Spuren – der Bundesrat sah dies lange erst für 2040 vor. 2014 traten die Verkehrsdirektoren der Kantone Aargau und Zürich öffentlich für den Ausbau ein, im selben Jahr schickte der aargauische Grosse Rat gar eine entsprechende Standesinitiative nach Bern, auch Parlamentarier wiebelten in Bern. Lange schien dies auf tobe Ohren zu stossen. Doch dann schwenkte der Bundesrat und zog den 6-Spur-Ausbau um zehn Jahre auf 2030 vor.

Das wurde 2018 bekannt. Und wo steht das Projekt heute? Laut Samuel Hool, Kommunikationschef der Filiale Zofingen des Astra, wird aktuell das sogenannte generelle Projekt für den 6-Spur-Ausbau Aarau Ost–Birrfeld erarbeitet. Im Frühjahr 2022 werde das Dossier voraussichtlich so weit sein, «dass die Vernehmlassung des Kantons Aargau inklusive der betroffenen Gemeinden sowie der Kantons- und Bundesämter (Ämterkonsultation) erfolgen kann».

Der Bundesratsentscheid über das generelle Projekt wird laut Hool Ende 2023 erwartet. Der früheste Baubeginn ist auf 2031 terminiert. Bei der Bekanntgabe im Jahr 2018 war der Ausbau mit Kosten von 372 Millionen Franken veranschlagt worden. Stimmen diese Zahlen noch? Zu den Kosten, sagt Hool, könnten im jetzigen Stadium noch keine zuverlässigen Aussagen gemacht werden.

Längere Ein- und Ausfahrten und später punktuell Pannenstreifenumnutzung

Um den Verkehr auf der A1 zu verflüssigen, wurden zwischen Aarau Ost und Birrfeld schon 2017 die Ein- und Ausfahrten der Anschlüsse Aarau Ost, Lenzburg und Mägenwil verlängert. Bei der Verzweigung Birrfeld wurde die Einfahrt Richtung Bern sowie die Ausfahrt Richtung Zürich verlängert, so Samuel Hool vom Bundesamt für Strassen (Astra), Filiale Zofingen. Bei der Ausfahrt Aarau West wurde der Ausfahrtsstreifen aus Richtung Bern schon 2009 verlängert.

Das Astra will zudem in den kommenden Jahren über 250 Kilometer Pannenstreifenumnutzungen (PUN) in den Agglomerationsräumen auf ihre verkehrliche Wirkung und bauliche Machbarkeit detailliert prüfen und realisieren. Mit einer temporären oder permanenten Freigabe des Pannenstreifens für den Verkehr lassen sich drohende Staus verhindern und stockender Verkehr verflüssigen, so die Überlegung.

Allerdings sollen solche Umnutzungen auch auf der A 1 (vgl. Grafik) erst in einigen Jahren kommen. Warum erst so spät? Laut Astra-Sprecher Thomas Rohrbach tönt so eine Umnutzung einfacher als es in der Realisierung ist. In praktisch allen Fällen müsse der Pannenstreifen baulich angepasst werden. Rohrbach: «Meist ist er zum Fahren viel zu schmal. Viele Autobahnen datieren aus den 1970/1980er-Jahren, die Pannenstreifen sind rund 2,50 Meter breit.» Zum Vergleich: ein Fahrstreifen ist 3,80 Meter breit. Das heisst, der Pannenstreifen muss auf mindestens 3 m, besser 3,5 m verbreitert werden, so Rohrbach. Oft sei auch der Unterbau anzupassen.

Bei Umnutzung müssen Nothaltebuchten gebaut werden

Führt eine PUN über einen Anschluss hinweg, muss auch dieser angepasst werden (Verzögerungs- und Beschleunigungsstreifen). Gleichzeitig müssen Nothaltebuchten erstellt werden, um bei einer PUN eine Alternative für Fahrzeuge mit Pannen zu haben. Solche Strecken benötigen zudem ein aufwendigeres Verkehrsmanagementsystem als Strecken ohne Pannenstreifenumnutzung. Kommt dazu, so Rohrbach: Und: Auch eine PUN nach Nationalstrassenrecht muss projektiert und genehmigt werden inklusive Planauflage/Einsprache- und Rekursmöglichkeit bis zum Bundesgericht. Diese Verfahren benötigen Zeit.

Diese Umnutzungen sind im Aargau in Planung:

PUN Pratteln–Augst–Rheinfelden West (vgl. Grafik): Die rechtskräftige Plangenehmigungsverfügung zum Ausführungsprojekt liegt seit kurzem vor. Nun erarbeitet das Astra das Detailprojekt, um die Arbeiten ausschreiben zu können. Baubeginn frühestens 2023.

PUN Wettingen-Ost–Dietikon und PUN Limmattaler Kreuz–Spreitenbach: Voraussichtlich 2026 stehen laut Rohrbach sämtliche drei Röhren des Tunnelsystems Gubrist in Betrieb (aktuell: Bau dritte Röhre, diese geht voraussichtlich 2023 in Betrieb. Danach 2023 bis 2026: Totalsanierung der bestehenden beiden Röhren nacheinander. Die Arbeiten an diesen PUN sind so getaktet, dass sie 2026, wenn am Gubrist alle Röhren offen sind, bereit sind – und auch das Limmattalerkreuz (und die ganze A1 im Limmattal).

So plant der Bundesrat den Verkehr bis ins Jahr 2050

Vor wenigen Tagen wagte der Bundesrat einen Blick weit in die Verkehrszukunft – mit dem Sachplan Verkehr bis 2050. Er kommt darin zum Schluss, dass die A1 aufgrund der ausgeprägten Logistiknutzung im Güterverkehr von national geprägtem Quell-/Zielverkehr belastet wird. Sie ist fast im ganzen Handlungsraum von Engpässen betroffen: So wird bis 2040 zwischen Luterbach und Härkingen ein Engpass der Stufe III (höchste Stufe) prognostiziert, zwischen der Verzweigung Oftringen und Lenzburg ein Engpass der Stufe I und ab Lenzburg Richtung Osten wiederum ein Engpass der Stufe III.

Auch die nachgelagerten Netze sind trotz zahlreicher Umfahrungsbauten (Aarburg, Lenzburg, Olten, Staffeleggzubringer in Aarau) in den letzten Jahren durch mindestens temporäre Überlastungen geprägt. Projekte zur Entlastung wie der 6-Spur-Ausbau zwischen Luterbach und Härkingen oder derjenige zwischen Aarau-Ost und Birrfeld sind mit unterschiedlichen Konkretisierungsgraden in Planung. Die Überlastungserscheinungen auf der Strasse betreffen laut dem bundesrätlichen Bericht mancherorts auch die Nebenzentren und dort insbesondere den strassengebundenen öffentlichen Verkehr sowie den Fuss- und Veloverkehr. Der Bund sieht auf dem Nationalstrassennetz im Aargau in den kommenden Jahren wie oben bereits dargelegt eine Kapazitätserweiterung der A1 zwischen Aarau Ost und Birrfeld vor.

So sieht es längerfristig auf der Schiene aus

Auf der Strecke Zofingen-Suhr-Lenzburg wird die Trassenkapazität erhöht. Die vorhandene Kapazität wird allerdings mit dem im Ausbauschritt STEP AS 2035 vorgesehenen Angebot laut Bundesratseinschätzung ausgeschöpft sein. Personenfern-, Regional- und Güterverkehr überlagern sich auf der Hauptachse.

Entsprechend bestehe wenig Spielraum, den Regionalverkehr insbesondere von Olten her ostwärts auszubauen. Abhilfe würde erst langfristig der Bau einer neuen Verbindung zwischen dem Raum Aarau und dem Limmattal schaffen. Aufgrund der guten Erschliessung und der zentralen Lage sind im Raum zwischen Oensingen/Gäu und Lenzburg namhafte Logistikfirmen angesiedelt. Die weitere Ansiedlung dieser in hohem Masse raumintensiven und verkehrsgenerierenden Branche stellt Gemeinden, Kantone und die Infrastrukturbetreiber aber vor hohe Herausforderungen. Der weitere Ausbau des Güterverkehrs wird in diesem Handlungsraum durch die bereits stark belasteten Achsen limitiert. Mit den STEP Ausbauschritten ist die Realisierung folgender Projekte vorgesehen:

  • Achse Aarau-Zürich: Taktverdichtung S-Bahn
  • Achse Aarau-Zürich: Taktverdichtung IR Verbindungen
  • Achse Olten-Zürich: Taktverdichtungen IC und IR Verbindungen
  • Zofingen-Suhr-Lenzburg: Erhöhung Trassenkapazität
  • Achsen Olten-Zofingen und Lenzburg-Wohlen Muri-Othmarsingen: Taktverdichtungen
  • Achse Gränichen-Aarau-Schöftland: Taktverdichtungen
  • Achse Lenzburg-Zofingen: Ausbau Kapazität Güterverkehr
  • Aarau–Brugg–Wettingen–Zürich, resp. Aarau–Lenzburg–Zürich: Taktverdichtung
  • Freiamt: Taktverdichtung zwischen Othmarsingen und Muri
  • Achse Rangierbahnhof Limmattal–Winterthur: Kapazitätsausbau im Güterverkehr.