Armeechef Süssli spricht im Aargau über die Dienstpflicht für Frauen, einen unterbesetzten Zivilschutz und den Klimawandel

Für Korpskommandant Thomas Süssli, den Chef der Schweizer Armee, gibt es einen Begriff für die aktuelle Situation in unserer Welt: VUCA. Diese Abkürzung, erklärte er an einem Podiumsgespräch zum Thema «Allgemeine Dienstpflicht für die Schweiz» in Endingen, stehe für volatility (Volatilität, Schwankung), uncertainty (Unsicherheit), complexity (Komplexität) und ambiguity (Mehrdeutigkeit).

Diese vier Faktoren seien entscheidend für die globale Sicherheitslage. Potenzial für künftige Konflikte sieht der Armeechef im rasanten Aufschwung Chinas zur Wirtschafts- und Supermacht, in der Überalterung der Gesellschaft, im Klimawandel und in der Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz.

Armeechef Thomas Süssli am interkantonalen Zivilschutztreffen in Endingen.

Armeechef Thomas Süssli am interkantonalen Zivilschutztreffen in Endingen.

Toni Widmer / Aargauer Zeitung

Der Klimawandel, erklärte Süssli, mache ihm am meisten Sorgen: «Dadurch können Teile der Welt unbewohnbar werden, was die Migration und die damit verbundenen Probleme verstärkt.» Künstliche Intelligenz wiederum gefährde nicht nur Arbeitsplätze, sondern sei eine gesellschaftliche Herausforderung, die auch militärischen Einfluss habe.

«In zehn Jahren fehlt uns ein Viertel des nötigen Bestandes»

Um allfälligen Konflikten – kriegerische Auseinandersetzungen, Elementarereignisse, Pandemien – begegnen zu können, seien eine personell angemessen dotierte und gut ausgerüstete Armee sowie ein entsprechender Zivilschutz für unser Land unabdingbar, erklärte Süssli.

Das Milizsystem sei jedoch massiv bedroht: «In zehn Jahren könnte uns ein Viertel des Bestandes fehlen», warnte der Armeechef. Dagegen brauche es neue Konzepte – wie diese aussehen könnten und ob die allgemeine Dienstpflicht eingeführt werden soll, diskutierten Thierry Burkart (Präsident der FDP Schweiz und Ständerat), Jean-Pierre Gallati (Aargauer SVP-Regierungsrat und Militärdirektor), Maja Riniker (FDP-Nationalrätin und Präsidentin des Schweizerischen Zivilschutzverbandes), Irène Kälin (Aargauer Grünen-Nationalrätin) sowie Priska Seiler-Graf (Zürcher SP-Nationalrätin).

Personalprobleme wegen unglücklicher Gesetzesänderung

Das Podiumsgespräch fand im Rahmen des Interkantonalen Zivilschutz-Treffens 2021 statt und so stellte Moderator Maurice Velati die erste Frage Maja Riniker: «Wo liegen die Probleme beim Zivilschutz?» «Wir haben zu wenig Leute und können unsere Aufgaben nicht mehr erfüllen», erklärte die Politikerin. Grund dafür sei – unter anderem – auch die fehlende Dienstpflicht für Frauen. Priska Seiler-Graf sieht in einer allgemeinen Dienstpflicht eine mögliche Lösung. Aber primär für den Zivilschutz. Um die Armee macht sie sich weniger Sorgen. Dies erachtet sie als bestens dotiert.

Für Jean-Pierre Gallati beruhen die personellen Probleme der Zivilschutzorganisation insbesondere auf der unglücklichen Gesetzesänderung zur Verkürzung der Dienstpflicht. «Wir haben von heute auf morgen rund einen Viertel des Bestandes verloren.» Gegensteuer geben will er vorab mit mehr Werbung für den Bevölkerungsschutz: «Wir planen im Aargau einen obligatorischen Informationstag zur vermehrten Rekrutierung von Personal für Armee und Zivilschutz, aber auch für Polizei und Feuerwehr», führte er aus.

Allgemeine Dienstpflicht auch im linken Spektrum vorstellbar

In der Folge fragte Maurice Velati die Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmer konkret, was sie von der allgemeinen Dienstpflicht halten. Für Thierry Burkart, Jean-Pierre Gallati und Maja Riniker ist dies absolut vorstellbar oder sogar dringend nötig. Ein solcher Systemwechsel, ist sich das bürgerliche Trio bewusst, könne jedoch nicht von einem auf den anderen Tag passieren. Es brauche erstens gute Konzepte und zweitens viel Überzeugungsarbeit.

Vorstellbar ist eine allgemeine Dienstpflicht auch für das linke Spektrum auf dem Podium. Für Priska Seiler-Graf allerdings etwas weniger als für Irène Kälin: «Zuerst müssen die Frauen in allen Bereichen gleiche Rechte haben, bevor man ihnen zusätzliche Pflichten aufbürdet», erklärte sie. Kälin kann sich eine Ausweitung der Dienstpflicht dann vorstellen, wenn Armee und Zivilschutz dabei nicht priorisiert werden. Ihr schwebt eine Art «Bürgerinnen- und Bürgerpflicht» vor, bei der die Bevölkerung in verschiedenste Milizaufgaben eingebunden wird.

Auch für Thierry Burkart und Jean-Pierre Gallati ist ein solches Konzept vorstellbar, allerdings wäre für beide aus Sicherheitsüberlegungen eine Priorisierung von Armee und Zivilschutz unabdingbar. Auch Maja Riniker könnte sich längerfristig einen Bürgerinnen- und Bürgerdienst vorstellen. Kurzfristig hat für sie jedoch ein anderes Anliegen Priorität: «Die Situation beim Zivilschutz liesse sich entspannen, wenn wir Zivildienstleistende bei Bedarf zur Unterstützung aufbieten könnten.»