Aargau bei Exporten abhängig von Novartis und Roche – sind sie Fluch oder Segen für die KMU?

Die Empörung war riesig. Im ganzen Kanton. 2000 Stellen würden gestrichen, stand in einer Mitteilung von Novartis im September 2018. Allein in Stein waren es 700 Jobs. 700 Einzelschicksale. Jede und jeder fühlt mit. Was leicht vergessen geht: Novartis ist ein Koloss. Fast 130’000 Menschen beschäftigt der Konzern weltweit, 13’000 in der Schweiz.

Einen solchen Koloss durch Zeiten des rasanten Wandels zu lotsen, ist kaum ohne Veränderung möglich. Das kann schmerzhaft sein. So schmerzhaft, dass vielleicht vergessen wird, dass Novartis gleichzeitig mit der Streichung von 700 Stellen bekannt gab, 450 Stellen neu zu schaffen. «Wir haben diese Jobs nicht ins Ausland verlagert, wir bauen das Unternehmen um», sagt Matthias Leuenberger, Länderchef Schweiz bei Novartis.

Rund jeder siebte Job im Aargau hängt von der Pharma ab

Der Pharma-Multi bleibt dem Kanton treu. Für den Aargau ist das wichtiger als für andere Kantone. Rund 10’000 Menschen beschäftigt die Pharmabranche im Aargau, die meisten davon in Stein (Novartis) und Kaiseraugst (Roche). Bei insgesamt 340’000 Erwerbstätigen im Kanton scheint das eine bescheidene Zahl. Aber nur auf den ersten Blick.

Schweizweit beschäftigt die Pharmaindustrie 47’000 Menschen, indirekt aber verdanken ihr rund 188’000 ihren Job. Alles in allem hängen also 235’000 Arbeitnehmer am Tropf der Multis. Im Falle des Kantons Aargau kann man davon ausgehen, dass ungefähr 50’000 Menschen ihren Lohn den Pharma-Multis verdanken – direkt und indirekt.

So wichtig die Pharma für den Kanton, so wichtig ist der Standort Aargau für die zwei Basler Multis. In den vergangenen Jahren hat Roche in Kaiseraugst eine Milliarde Franken investiert. In ein neues IT-Innovationszentrum und neue Produktionsgebäude. Seit 2000 hat sich die Zahl der Beschäftigten in Kaiseraugst von 1400 auf mehr als 2800 verdoppelt. Novartis baut zwar ab, aber eben auch auf. Man hält am Standort fest.

Der Kanton ortet bei der Pharmaindustrie Wachstumspotenzial. Sollte die Prognose stimmen, es wäre auch für die KMU ein Grund zur Freude. So sind beispielsweise 70 Prozent der von Roche in den letzten Jahren getätigten Investitionen über eine Milliarde Franken an lokale Unternehmen geflossen, sagt Jürg Erismann, Leiter des Standorts Basel/Kaiseraugst bei Roche. «Zum grossen Teil waren das KMU, viele von ihnen internationale Spitze in ihren Fachgebieten», so Erismann. Genauso werden viele lokale Unternehmen profitieren, wenn Novartis in Stein eine Produktionsanlage für Zell- und Gentherapie betreibt.

Nik Keel verdankt den Multis viel. Zwar hat er sich einst im Nuklearbereich selbstständig gemacht. Er verkaufte selbst produzierte Vollschutzanzüge und Belüftungssysteme. Aus einer Hand. Als einer von ganz wenigen weltweit. 2005 erhielt er von der Säurefabrik in Pratteln den ersten Auftrag aus der Chemiebranche. «Das war ein Türöffner», erinnert sich Keel.

Heute erwirtschaftet er mit seinem Unternehmen, der TB-Safety AG mit Sitz in Frick, einen Umsatz von rund fünf Millionen Franken. 80 Prozent davon verdankt er der Pharma. «Das ist natürlich ein Klumpenrisiko», sagt er unumwunden. Verlagern die Multis in grossem Stil, wird es schwierig für ihn. Die Abhängigkeit kann schnell zum Fluch werden.

Wenn die Multis zu Türöffnern im Weltmarkt werden

Aber die Pharma war und ist vor allem auch Segen. Dank ihr ging sein Geschäft durch die Decke. «In einem Kraftwerk brauchen sie vielleicht 500 Anzüge pro Jahr, ein grosses Pharma-Unternehmen braucht bis 100’000», sagt er. Von 2005 bis 2010 wächst das Unternehmen rasant. Unterdessen ist TB-Safety selbst ein kleiner Multi, mit Produktionsstätten in Italien und Rumänien sowie der Forschung und Entwicklung in der Schweiz.

Die Tätigkeit für die Pharma hat auch neue Türen geöffnet, Chancen zur Diversifikation. Längst liefert Keel seine Anzüge an die Bundeswehr oder an Ärzte ohne Grenzen. Sie kamen auch im Kampf gegen Ebola zum Einsatz. Und das wiederum inspirierte zu Innovationen. So hat man eben einen Tunnel auf den Markt gebracht, der es dem Träger des Anzugs ermöglicht, diesen abzustreifen, ohne mit der Aussenhülle in Berührung zu kommen. Magic Exit nennt ihn Keel.

Dennoch stehen die Pharma-Multis auch im Aargau oft in der Kritik. Linke und Gewerkschaften empören sich über ihr Gewinnstreben, das kalte Kalkulieren bei Strategieänderungen und den Abbau von Stellen. Aber, meinte SP-Landammann und Volkswirtschaftsdirektor Urs Hofmann an einer Podiumsdiskussion der Industrie- und Handelskammer: «Es wäre ein grosser Irrtum, nur auf die Kleinen zu setzen, wenn man sieht, wie gross der Hebel bei den Grossen ist.»

Warum die Pharma-Branche krisenresistenter ist als andere

Die Schweizer Exportindustrie ächzt unter dem starken Franken. Oder sie stottert wegen des amerikanisch-chinesischen Handelskrieges. Fragt man aber bei den Pharmamultis nach, dann beschäftigt man sich zwar wohl mit diesen Krisenphänomenen, aber Ängste lösen sie kaum aus. Warum?

Es gibt in diesem Zusammenhang zwei zentrale Aspekte zu berücksichtigen: Zum einen haben die WTO-Mitglieder (164 Nationen) vereinbart, dass auf Pharma-Produkte keine Zölle erhoben werden dürfen. Das muss noch nicht heissen, dass sich Donald Trump nicht über diese Bestimmungen hinwegsetzt. Hier kommt Punkt 2 zum Tragen: Im Gegensatz zu anderen Gütern reagiert die Nachfrage nach Pharma-Produkten viel weniger auf Preiserhöhungen. Geht es um die Gesundheit, spielt der Preis eine weit weniger wichtige Rolle bie der nachgefragten Medikamenten-Menge als beispielsweise bei T-Shirts. Trotzdem ist kaum damit zu rechnen, dass die Konsumenten eine Preiserhöhung einfach so hinnehmen würden. Geht es ans Portemonnaie, ist mit dem Aufbegehren des Volkes zu rechnen.

Obwohl die Branche krisenresistent ist, gingen die Schweizer Pharma-Exporte im Juli gegenüber dem Vormonat um 1,2 Milliarden Franken zurück. Das erstaunt. Der Branchenverband Interpharma erklärt: Saisonale Schwankungen seien ein Grund. Zudem verschickten die Pharma-Multis ihre Ware immer öfter direkt vom Produktionsort und führten sie nicht zuerst in die Schweiz ein. Aus Effizienzgründen, aber auch aufgrund ökologischer Überlegungen. Interpharma geht davon aus, dass dies keinen Einfluss auf die Beschäftigung hat. (sel)