
Aargauer Impfchef Andreas Obrecht: «Ich kann nur an die Vernunft jedes einzelnen appellieren»
Zur Person
Andreas Obrecht (41) leitet die Aargauer Impfkampagne. Er ist Wirtschaftsmathematiker und war lange als Berater für Risiko- und Notfallmanagement tätig. Die letzten drei Jahre war er Geschäftsleitungsmitglied der Orell Füssli Sicherheitsdruck AG, die unter anderem Banknoten herstellt. Obrecht hat im Militär Karriere gemacht. Er war gut zehn Jahre militärisch in der Nationalen Alarmzentrale des Bundes eingeteilt und hat sich dort um das Ressourcenmanagement auf Stufe Bund gekümmert. Im Kanton Aargau ist er seit 2018 im Kantonalen Führungsstab eingeteilt und hat bereits die erste Coronawelle militärisch begleitet. Obrecht wohnt mit seiner Familie in Fahrwangen.
Andreas Obrecht hat einen Stapel Unterlagen unter dem Arm und das Handy am Ohr, während er auf der Bachstrasse in Richtung Gesundheitsdepartement geht. Als Impfchef gibt es immer etwas zu tun. Organisieren, aufgleisen, entscheiden. Trotzdem nimmt er sich Zeit, auf die ersten drei Monate der Impfkampagne zurückzublicken, und verrät, wie es in den nächsten Monaten mit dem Impfen weitergeht.
Vor einem Jahr befanden wir uns mitten in der ausserordentlichen Lage. Einen Impfchef gab es noch nicht. Was haben Sie damals gemacht?
Andreas Obrecht: Ich habe in der Industrie gearbeitet und war Geschäftsleitungsmitglied bei der Orell Füssli Sicherheitsdruck AG in Zürich. Corona hat mich aber schon damals beschäftigt. Ich leitete den Pandemiestab im Geschäft. Gleichzeitig bin ich in meiner militärischen Funktion Mitglied des Kantonalen Führungsstabs und hatte zu diesem Zeitpunkt Pikett. Aus diesem Grund war ich der zweite Soldat im Kanton Aargau, der zugunsten der Pandemie eingerückt ist.
Acht Monate später wurden Sie Aargauer Impfchef. Wie kam es dazu?
Ich habe eine neue Herausforderung gesucht, und weil man mich im Aargau als Mitglied des Führungsstabs bereits kannte, wurde ich angefragt.
Haben Sie lange überlegt, ob Sie das Angebot annehmen?
Zum Überlegen blieb nicht viel Zeit. Es war eine dynamische Geschichte.
Was hat Sie gereizt?
Die Einmaligkeit. Eine solche Chance bekommt man einmal im Leben. Es ist eine spezielle Situation, und für mich ist es eine Ehre, dass ich knapp zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung impfen darf.
Medizinisches Know-how bringen Sie nicht mit. Ist das ein Nachteil?
Nein. Ich habe ein Team, das sehr erfahren ist und dieses Know-how mitbringt. Auf Stufe Kanton ist das Impfprojekt sowieso grossmehrheitlich eine logistische Herausforderung und keine medizinische.
Sie haben die neue Funktion mitten in der Krise übernommen und waren der Neue. Wie war das?
Die Umgebung war neu, und auch die Leute kannte ich nicht. Aber wir haben ja relativ klein angefangen. Insofern hatte ich relativ grossen Einfluss darauf, wen ich ins Team aufnehme.
Sorgte es für böses Blut, dass Sie als Externer Impfchef wurden und nicht jemand vom Kernteam des Führungsstabs?
Nicht, dass ich wüsste. Ich habe vom Regierungsrat einen Auftrag erhalten mit dem klaren Ziel, die Bevölkerung des Kantons Aargau zu impfen. Dieses Ziel werde ich erfüllen.
Seit rund drei Monaten wird geimpft. Worauf sind Sie besonders stolz?
Auf alles, was wir als Team erreicht haben. Am ersten Tag war ich allein, tags darauf stiessen die ersten Mitarbeitenden hinzu, und inzwischen sind gegen 700 Personen in die Impfaktion involviert. Wir haben also innert kurzer Zeit ein KMU aufgebaut. Wenn ich vor einem Impfzentrum stehe, sehe ich nur glückliche Leute – das motiviert.
Was würden Sie heute anders angehen?
Bis jetzt haben wir nichts grundlegend falsch gemacht. Ich sehe keinen Entscheid, den ich im Nachhinein anders fällen würde.
Der Bund macht den Kantonen beim Impfen viele Vorgaben – zum Beispiel bei der Priorisierung. Hätten Sie manchmal gerne mehr Freiheiten gehabt?
Es ist vernünftig, dass sich ein Land auf gewisse Spielregeln einigt. Es stand für mich nicht zur Diskussion, die Impfstrategie, die der Bund vorgegeben hat, zu hinterfragen. Mein Auftrag ist es, den Kanton Aargau durchzuimpfen, und da habe ich viele Freiheiten.
Es gab auch Kritik an der Impfkampagne. Die Bevölkerung ist ungeduldig oder sogar wütend, dass es nicht schneller vorwärtsgeht.
Ich habe ein gewisses Verständnis dafür. Die Zulassung des Impfstoffes von Pfizer/Biontech am 19. Dezember hat in der Bevölkerung eine Erwartungshaltung ausgelöst. Die Leute dachten, es sei jetzt endlich ein Ende absehbar. Das Problem ist, dass die Zulassung des Impfstoffes erst der Anfang war. Insofern wurden damals Erwartungen geweckt, die man mit dem verfügbaren Impfstoff nicht erfüllen konnte.
Richten sich Wut und Ungeduld auch gegen Sie als Impfchef?
Ich bekomme Mails, Briefe und Anrufe, und in den sozialen Medien gibt es kritische Kommentare. Damit muss ich umgehen. Es ist nicht möglich, es allen immer recht zu machen. Wichtig ist, dass die Stossrichtung stimmt. Ausserdem erhalten wir auch sehr viel Lob für unsere Arbeit. Teilweise sogar von jenen Personen, die uns anfänglich kritisiert haben.
Sie fordern die Bevölkerung auf, sich für die Impfung zu registrieren. Gleichzeitig weiss jemand, der jung und gesund ist, dass er trotzdem noch Wochen oder Monate auf einen Termin warten muss.
Es war von Anfang an klar, dass das Impfen bis im Sommer dauern wird. Damit aber alles möglichst reibungslos ablaufen kann und wir optimal planen können, ist es wichtig, dass sich alle Impfwilligen schon jetzt registrieren und sich in möglichst vielen Impfzentren anmelden. So sehen wir zum Beispiel, welche Impfzentren bevorzugt werden oder ob Impfwillige lieber in die Apotheke oder Hausarztpraxis gehen, und können das Angebot den Bedürfnissen anpassen.
Können Sie sagen, welche Altersgruppe besonders impfwillig ist?
Nein, das ist wirklich querbeet. Ich stelle aber fest, dass jene Leute, die von der Impfung überzeugt sind, eher ruhig sind. Impfgegner machen mehr Lärm.
Lassen Sie die Kritiker lärmen oder versuchen Sie, diese umzustimmen?
Die Impfung ist freiwillig. Am Schluss muss jeder für sich entscheiden, ob er mit der Impfung dazu beitragen will, dass wir die Pandemie in den Griff bekommen oder ob er das Risiko eingehen will, an Covid-19 zu erkranken. Ich habe die Krankheit während der ersten Welle durchgemacht und möchte es nicht noch einmal erleben. Ich war noch nie so erschöpft und habe noch nie so viel geschlafen wie in diesen zwei Wochen. Ich spürte auch neun Monate später noch Nachwehen. Insofern ist für mich der Entscheid für die Impfung vernünftig.
Sie werden sich also impfen lassen?
Ja. Aber meine Zielgruppe ist noch nicht an der Reihe. Ich muss mich noch etwas gedulden.
Im Aargau ist die breite Bevölkerung im Juni an der Reihe. In den meisten anderen Kantonen schon früher. Warum?
Wir berücksichtigen weiterhin die vier priorisierten Zielgruppen gemäss den Empfehlungen des Bundesamtes für Gesundheit. Sie machen im Aargau knapp die Hälfte der Bevölkerung aus. Alle übrigen Personen erhalten voraussichtlich im Juni eine Impfung. Die Impfkampagne bereitet aber auch das realistische Szenario vor, dass dies bereits im Mai der Fall sein wird.
Wovon hängt das ab?
Einerseits von der Anzahl registrierter Personen pro Zielgruppe und andererseits von der Lieferung des Impfstoffs. Das ist in den anderen Kantonen nicht anders. Bei Kantonsvergleichen muss man immer aufpassen, dass man nicht Äpfel mit Birnen vergleicht. Die zeitlichen Unterschiede dürften am Ende nicht gross sein.
Besonders ärgerlich ist es für gesunde Menschen, die noch nicht ganz 65 Jahre alt sind. Müssen Sie gleich lange warten wie gesunde 18-Jährige?
Ja. Im Aargau werden die gesunden 18- bis 64-Jährigen innerhalb der Zielgruppe nach dem Prinzip «first come first serve» geimpft. Hat sich ein 18-Jähriger bereits im Januar für einen Termin registriert, bekommt er vor der 64-Jährigen einen Termin, die sich erst im März registriert hat.
Das ist im Kanton Zürich anders. Dort kommen die gesunden 50- bis 64-Jährigen vor den 18- bis 49-Jährigen an die Reihe. Wäre das im Kanton Aargau auch möglich?
Ja. Aber es wäre nicht fair. Eine 30-Jährige, die sich im Januar registriert hat und reisen will, braucht die Impfung genau gleich wie jemand, der 64 Jahre alt ist. Es ist uns wichtig, dass besonders gefährdete Personen zuerst geimpft sind. Aber alle anderen wollen wir – egal ob 18, 30 oder 60 Jahre alt – möglichst gleich behandeln. Gerade die jungen Menschen mussten und müssen auf vieles verzichten. In meinen Augen ist es deshalb nicht fair, wenn sie einer älteren Person Vorrang geben müssten, obwohl sie Teil der gleichen Zielgruppe sind.
Eine Ausnahme sind die Lehrerinnen und Lehrer. Über 50-jährige Lehrpersonen werden priorisiert. Warum spielt dort das Alter plötzlich eine Rolle?
Das ist ein Entscheid des Gesundheitsdirektors, der die Situation der Lehrpersonen im Klassenzimmer berücksichtigt. Und es ist so, dass das Risiko für einen schweren Verlauf ab einem Alter von 50/55 Jahren exponentiell steigt.
Sie haben eine Tochter im Teenageralter. Machen Sie sich als Vater Sorgen, dass ihr wegen der Pandemie ein wichtiger Teil des Lebens gestohlen wird?
Ich würde nicht sagen, dass jungen Menschen ein Jahr gestohlen wird. Aber es ist eine spezielle Zeit, die uns alle bis ans Lebensende prägen wird. Gerade für Kinder und Jugendliche ist ein Jahr eine lange Zeit und entsprechend einschneidender als für eine erwachsene Person.
Ab Mai/Juni soll der Impfstoff in grösseren Mengen zur Verfügung stehen. Sind Sie zuversichtlich, dass das auch passiert?
Wir planen mit den Angaben, die wir vom Bund erhalten. Dort sind im Mai und Juni grössere Mengen versprochen. Darauf sind wir vorbereitet und dafür reichen auch die Kapazitäten. Aber letztlich wissen wir jeweils eine halbe bis anderthalb Wochen im Voraus, wie viel Impfstoff wir tatsächlich erhalten. Und die Leute müssen sich dann auch noch impfen lassen wollen.
Ist das Ihre Sorge? Dass Sie genug Impfstoff haben und niemanden mehr, der sich impfen lassen will?
Für eine Herdenimmunität braucht es eine Durchimpfungsrate von 70 Prozent. Das zu erreichen, wird nicht ganz einfach.
Es gibt bereits Befürchtungen, dass Impfgegner künftig zum Treiber der Pandemie werden und das Gesundheitswesen an den Anschlag bringen könnten.
Das ist sicher ein mögliches Szenario. Aber wie gesagt: Es gibt keinen Impfzwang. Ich kann nur an die Vernunft jeder einzelnen Person appellieren.
Wie wollen Sie das tun?
Indem ich den Nutzen der Impfung aufzeige. Schauen Sie beispielsweise die Pflegeheime an. Das ist eine Erfolgsstory. Im Dezember 2020 machten die Todesfälle in Pflegeheimen mehr als die Hälfte aller Todesfälle aus. Seit die Impfung der Pflegeheimbewohnerinnen und Pflegeheimbewohner abgeschlossen ist, ist Ruhe eingekehrt. Das ist nicht, weil Frühling wurde und die Sonne scheint, sondern weil die Impfung wirkt. Der Aargau startet morgen zudem eine Informationskampagne zur Covid-Impfung.
Braucht es zusätzlich Privilegien für Geimpfte?
Darüber kann man reden, sobald alle die Möglichkeit hatten, sich impfen zu lassen. Ich wüsste nicht, weshalb sich eine geimpfte Person einschränken lassen sollte, nur weil sich andere nicht impfen lassen wollen.
Bis wann sind alle impfwilligen Aargauerinnen und Aargauer zweimal geimpft?
Prognosen sind relativ schwierig. Ich gehe davon aus, dass es im Juli/August so weit sein wird.
Für Schlagzeilen wegen unerwünschter Nebenwirkungen sorgt der Impfstoff von Astra Zeneca. Dieser ist in der Schweiz noch nicht zugelassen. Zum Glück?
Ich habe keinen Einfluss darauf, ob ein Impfstoff zugelassen wird oder nicht. Entsprechend mache ich mir keine Gedanken darüber, ob das gut oder schlecht ist. Ich muss nach der Zulassung sicherstellen können, dass der Impfstoff verimpft werden kann, und darauf sind wir im Aargau vorbereitet.
Sollte der Impfstoff zugelassen werden, dürfte es in der Bevölkerung Vorbehalte geben. Wie wollen Sie das lösen?
Es kann niemand dazu gezwungen werden, sich mit dem Astra-Zeneca-Impfstoff impfen zu lassen. Es ist auch der Plan, dass Leute, die Vorbehalte haben, den Impfstoff nicht erhalten.
Heute kann man den Impfstoff aber nicht auswählen.
Das stimmt. Aber ich gehe aktuell davon aus, dass man einer Impfung mit dem Astra-Zeneca-Impfstoff explizit zustimmen muss. Wie das im Detail aussieht, wird dann kommuniziert, wenn Swissmedic den Impfstoff zugelassen hat.
Würden Sie sich mit dem Astra-Zeneca-Impfstoff impfen lassen?
Ich stehe im Moment nicht vor dieser Entscheidung und habe mich deshalb noch nicht damit auseinandergesetzt.