
Aargauer Kantonsärztin zeigt 371 Quarantäne-Sünder an – so funktioniert das Contact-Tracing

Kantonsärztin Yvonne Hummel desinfiziert sich die Hände und zieht eine Maske an. Im Conti, dem Contact-Tracing-Center des Kantons, gilt Maskenpflicht. Im Sitzungszimmer findet die tägliche Fallbesprechung statt. Ein Mitarbeiter berichtet von einem Mann, der positiv auf das Coronavirus getestet wurde, dann zehn Tage in Isolation war.
Die Symptome waren abgeklungen, die Isolation wurde aufgehoben. Nun huste er wieder und klage über ein Kratzen im Hals und Appetitlosigkeit. Hummel hört zu, fragt nach Vorerkrankungen, überlegt. «Für mich deutet das auf einen zweizeitigen Krankheitsverlauf hin», sagt sie.
Dabei treten Symptome nach einer anfänglichen Besserung sieben bis zehn Tage nach Symptombeginn erneut auf und manchmal komme es in diesen Situationen zu einem schweren Verlauf. Was genau dem Mann fehlt, kann Hummel nicht am Sitzungstisch entscheiden. «Er muss zum Arzt», sagt sie.
210 Personen konnten dank Quarantäne niemanden anstecken
Im alten Verwaltungsgebäude der Eniwa in Aarau ist seit dem 11. Mai das Conti in Betrieb. Die Mitarbeitenden erhalten eine Meldung, wenn eine Person aus dem Aargau positiv auf das Coronavirus getestet wird. Danach müssen sie abklären, wo sich die Person angesteckt haben könnte und mit wem sie Kontakt hatte, damit diese Personen zehn Tage unter Quarantäne gestellt werden können. Das ist wichtig, um weitere Ansteckungen zu verhindern und so die Ausbreitung des Virus einzudämmen.
Die Zahlen des Kantonsärztlichen Dienstes zeigen: Von den engen Kontaktpersonen in Quarantäne sind seit dem 11. Mai im Schnitt etwa sechs Prozent auch an Covid-19 erkrankt. In Zahlen heisst das: 210 Personen waren bisher in Quarantäne, als sie erste Symptome entwickelt haben und konnten dadurch keine weiteren Personen anstecken.
An der täglichen Sitzung werden untypische Krankheitsverläufe wie jener des Mannes besprochen. Die Mitarbeitenden können der Kantonsärztin aber auch Fragen stellen, wenn sie Fälle haben, bei denen sie unsicher sind. Sie habe einen Grenzgänger am Telefon gehabt, der zwei Wochen in Portugal in den Ferien war, berichtet eine Mitarbeiterin.
Er wolle wissen, ob er in Quarantäne müsse. «Portugal ist seit dieser Woche auf der Liste der Risikoländer», sagt Hummel. – «Aber er ist Grenzgänger. Für die gibt es doch Ausnahmen?» – «Ja, das stimmt. Grenzgänger müssen nicht in Quarantäne. Aber dieser Mann ist nach seinen Portugalferien primär ein Reiserückkehrer. Wenn er in die Schweiz einreisen will, muss er in Quarantäne.»
Reiserückkehrer, die sich nicht melden, werden angezeigt
Vor allem nach den Sommerferien gab es im Conti viel zu tun wegen Reiserückkehrer. Seit dem 13. Juli waren 8473 Aargauerinnen und Aargauer in Quarantäne, weil sie aus einem Risikoland eingereist sind. Tatsächlich dürften es mehr sein. Das Conti erhält von der Kantonspolizei Zürich nur die Daten jener Personen, die mit dem Flugzeug einreisen.
«Weil wir offene Grenzen haben, wissen wir nicht, wer mit dem Auto, Bus oder Zug aus einem Risikoland einreist und sich nicht bei uns meldet», sagt Hummel. Auch die Meldedisziplin der Flugpassagiere ist nicht einwandfrei: «Mehr als 30 Prozent melden sich nicht bei uns», sagt Hummel.
Sie weiss das so genau, weil die Contact-Tracer die Liste der Fluggäste mit jenen Personen abgleichen, die sich gemeldet haben. «Wer sich nicht fristgerecht innerhalb von zwei Tagen nach Einreise in die Schweiz gemeldet hat, obwohl er auf der Liste steht, wird verzeigt», sagt Hummel. Seit dem 13. Juli sind bereits 371 Anzeigen eingereicht worden.
Im Aargau gilt bei der Quarantäne ein strenges Regime
Im Conti gilt der Grundsatz: Im Zweifelsfall müssen die Leute in Quarantäne. «Da sind wir verglichen mit anderen Kantonen bisher sicher auf der strengeren Seite», sagt Hummel. Es gebe Kantone, die es anders machten, weil ihre Ressourcen für das Contact-Tracing zu knapp seien. «Wir fragen uns nicht, ob und wie lange die Ressourcen reichen, um das Contact-Tracing aufrechtzuerhalten; wir überlegen, wie man das Contact-Tracing organisieren kann, damit die Ressourcen ausreichen.»
Das Team ist seit dem 11. Mai kontinuierlich aufgestockt worden. Zwischenzeitlich wurde es verdreifacht. Aktuell hat es im alten Eniwa-Gebäude 23 Arbeitsplätze. An Tischen, abgetrennt durch Stellwände, arbeiten die Mitarbeitenden ihre Fälle ab. Es gab Tage, an denen über 100 neue enge Kontaktpersonen von Infizierten unter Quarantäne gestellt werden mussten. Für die Mitarbeitenden im Conti sind das die strengen Tage. «Da müssen wir Prioritäten setzen», sagt Karen Bärlocher, stellvertretende Leiterin des Conti.
Das Ziel, alle Infizierten und alle engen Kontaktpersonen einmal täglich zu kontaktieren, gerät dann etwas in den Hintergrund. «Wir rufen nur jene Personen an, bei denen es wichtig ist, weil sie zum Beispiel gesundheitlich angeschlagen sind oder erst seit kurzem in Quarantäne sind und Fragen haben könnten.» Der Fokus liegt auf den neuen Fällen. «Dort müssen wir schnell reagieren, um zu verhindern, dass potenziell angesteckte Personen, weitere Personen anstecken», sagt Bärlocher. Im Moment sei es aber eher ruhig. Das liege wohl auch an den Schulferien.
Ansteckungen an Schulen halten Contact-Tracer auf Trab
Coronafälle an Schulen fordern die Contact-Tracer besonders. An der Oberstufe Sins wurden nach einem Klassenlager mehrere Schülerinnen und Schüler positiv auf das Coronavirus getestet. Die Abklärungen beschäftigten das Contact-Tracing-Team während mehrer Tage. Sie mussten herausfinden, wer in welcher Klasse mit wem Kontakt hatte, wer die Begleitpersonen waren und ob potenziell infizierte Schülerinnen und Schüler noch im Unterricht waren.
Am Schluss mussten 130 Schülerinnen und Schüler, zehn Lehrpersonen und über 60 Familienangehörige und andere enge Kontaktpersonen in Quarantäne. Kantonsärztin Yvonne Hummel hat ausserdem eine dreiwöchige Maskenpflicht für das Schulgelände erlassen. Sie will wissen, ob es im Umfeld der Schule neue Fälle gab. Die Contact-Tracerin verneint. «Gut», sagt Hummel. Sie will gegen Ende Woche erneut ein Update der Lage. «Wenn es weiterhin keine neuen Fälle gibt, kann die Maskenpflicht Ende Woche aufgehoben werden.»
Die Informationen, die im Conti erhoben werden, sind für die Kantonsärztin wichtig, um die aktuelle Lage im Kanton Aargau zu beurteilen. Sie muss wissen, wie viele Personen sich neu anstecken, wie viele in Quarantäne sind, wo sich die Leute anstecken und wo es zu Ausbrüchen kommt, das heisst, wo sich zwei oder mehr Personen einer Gruppe innerhalb von zehn Tagen angesteckt haben.
Nebst diesen Daten beobachtet Hummel auch die Situation an den Spitälern. Wie viele Covid-Patienten sind im Spital? Wie viele werden beatmet und wie viel Kapazität haben die Intensivstationen?
Superspreader-Event in Spreitenbach führte zu Anstieg
Einzelne Ausschläge nach oben bringen die Kantonsärztin nicht aus der Ruhe. «Diese lassen sich meistens erklären», sagt sie und verweist auf eine Grafik zur aktuellen Lage. Der Anstieg um den 30. Juni führt sie auf den Superspreader-Event in Spreitenbach zurück. Jener um den 11. August auf das Ende Schulferien.
«Ich schaue mir die Zahlen auch lieber im Zeitverlauf an», sagt Hummel. «Wenn es an einem Tag 30 neue Fälle gibt, am vorherigen und nächsten aber nur zehn, ist das noch nicht alarmierend.» Der Sieben-Tage-Durchschnitt oder die Sieben-Tage-Inzidenz, also wie viele positive Tests es in den letzten sieben Tagen pro 100 000 Einwohnerinnen und Einwohner gab, seien da aussagekräftiger.
Bei der Sieben-Tage-Inzidenz lag der Aargau seit Anfang Mai immer unter 25 Neuansteckungen pro 100 000 Einwohner – und damit im grünen Bereich gemäss Alarmkonzept der Vereinigung der Kantonsärztinnen und Kantonsärzte. Kritisch würde es ab einer Inzidenz von 50 (gelb) beziehungsweise 75 Neuansteckungen (rot) pro 100’000 Einwohner werden.
«Das Verständnis der Leute nimmt ab»
Das Team des Conti ist durchmischt. Es ist ein Kommen und Gehen. Einige haben nur einen befristeten Einsatz, andere sind neu dabei, andere schon länger. Karen Bärlocher ist fast seit Anfang Teil des Teams. Sie ist zufällig im Conti gelandet. Sie war selbstständig als Coach und Trainerin tätig und hatte schon länger Lust auf etwas Neues. Spontan hat sie sich beim Kanton als Helferin gemeldet.
Sie hatte ein Vorstellungsgespräch und in der darauffolgenden Woche als Contact-Tracerin angefangen. Ihr gefällt die Arbeit. Der Kontakt zu den Menschen in Isolation oder Quarantäne und das gemeinsame Erforschen, wo sich jemand angesteckt haben könnte und mit wem er Kontakt hatte.
Meistens hätten die Leute Verständnis und würden kooperieren, sagt Bärlocher. Es gebe auch viele, die sich bedankten und froh seien, dass sie während der Isolation oder Quarantäne begleitet werden. «Aber im Gegensatz zum Anfang nimmt das Verständnis schon ab», sagt sie.
Immer wieder gibt es Menschen, die nicht kooperieren wollen
Es gebe doch immer wieder mal anspruchsvollere Situationen oder Menschen, die nicht kooperieren wollen. «Sie wollen uns zum Beispiel nicht sagen, mit wem sie engen Kontakt hatten.» Ein Grund könne sein, dass sie nicht verantwortlich für die Quarantäne von Arbeitskollegen und Familienmitgliedern sein wollen. In solchen Situationen helfe es, sachlich zu bleiben und Ruhe zu bewahren.
Anstrengend seien ab und zu auch Sportlerinnen und Sportler, die in Quarantäne müssten. «Ihnen fehlt die Bewegung, wenn sie nicht rausdürfen», sagt Bärlocher. «Ein Mann hat mich mal gefragt, ob er denn nicht nach 22 Uhr ins Krafttraining gehen könne.» Das war natürlich nicht möglich. Die Regeln sind für alle gleich. «Die Quarantänedauer ist nicht verhandelbar», sagt auch Kantonsärztin Hummel.
Ein Contact-Tracer versucht gerade vergeblich, jemanden zu erreichen. Wenn die Mitarbeitenden jemanden länger nicht ans Telefon bekommen, schicken sie die Kantonspolizei vorbei. Manchmal genügt aber auch ein Anruf im Spital und sie erfahren, dass die Person hospitalisiert ist.
Ab Mitte 2021 brauchen die Contact-Tracer ein neues Büro
Das Contact-Tracing mussten die Kantone im Hinblick auf die Lockerung der Coronamassnahmen aufbauen. Die Fälle wurden bereits zu Beginn der Pandemie zurückverfolgt – allerdings weniger professionell. Die behelfsmässige Excel-Tabelle ist dann mit der Wiedereinführung durch eine eigens entwickelte Software ersetzt worden.
Das Contact-Tracing ist neben dem umgehenden Testen bei Symptomen ein zentraler Pfeiler, um eine zweite Welle zu verhindern. Auf Isolations- und Quarantänemassnahmen könne verzichtet werden, wenn eine Impfung zur Verfügung stehe, sagt Hummel. Dies könnte im Verlauf des nächsten Jahres möglich sein. Sie plant für das Contact-Tracing-Center deshalb mit einem Horizont bis Ende 2021.
Bis dann wird es umziehen müssen. Bei den Räumen im ehemaligen Eniwa-Verwaltungsgebäude handelt es sich nur um eine zeitlich beschränkte Zwischennutzung. Hummel rechnet damit, dass das Conti auf Mitte 2021 einen anderen Standort braucht. Die Suche läuft.
Grafik unten: Neue Ansteckungen im Aargau