
Aargauer Kantonstierärztin tritt ab: «Manche Leute halten ein Tier als Statussymbol»
Mein Büro auszuräumen, ist fast so, wie einen ganzen Haushalt zu zügeln», sagt Erika Wunderlin, die nach zwei Jahrzehnten als Kantonstierärztin vorzeitig in den Ruhestand geht. In ihrer Amtszeit haben sich Ordner voller Dokumente und dutzende Geschenke von Jägern, Bauern oder Haustierhaltern angesammelt. Die 61-Jährige will jetzt aber ein neues Kapitel anfangen und sich rigoros trennen. Ganz einfach fällt ihr das vor allem bei einem Gegenstand nicht: «Als ich das Amt antrat, durfte ich im Aargauer Kunsthaus ein Bild fürs Büro aussuchen.» Sie habe ein modernes und sehr grafisches Bild von einem Künstler aus dem Tessin gewählt. «In stressigen Momenten hat es mich beruhigt», sagt sie. «Dann kamen letzte Woche die Leute vom Kunsthaus und haben es wieder abgeholt. Sie fragten mich, ob ich es kaufen würde.» Wunderlin wollte nicht. «Ich habe keinen Platz, es aufzuhängen, und ich will einen Schlussstrich ziehen.»
Erika Wunderlin wuchs in Zeiningen auf. Nach ihrem Studium war sie zuerst in der Pathologie tätig und reiste dann zum Arbeiten nach Australien: «Ich war dort bei einem Projekt des Nationalfonds tätig. Wenn ich Fernweh habe, dann träume ich auch heute noch von Australien. Vor allem von dieser Weite.» Zurück in der Schweiz, praktizierte sie im Toggenburg als Klein- und Grosstierärztin. «Das war eine prägende Zeit, ich habe viele Erfahrungen gesammelt.» Am 1. November 1998 trat Erika Wunderlin das Amt der Aargauer Kantonstierärztin an.
Frau Wunderlin, was war Ihre erste Aufgabe, als Sie das Amt antraten?
Erika Wunderlin: Als ich ins Amt kam, war der Tierschutz Brachland. Er war in Nutztiere und Heimtiere aufgeteilt. Von mir wurde erwartet, neue Ansätze zu finden. Nach einem vierjährigen Prozess, der viel mit Vertrauen, aber auch mit Ressourcenverteilung und Datenverarbeitung zu tun hatte, wurde 2003 auch die Landwirtschaft im Veterinäramt aufgenommen. Das war ein Höhepunkt meiner Amtszeit.
Was waren die grössten Herausforderungen?
Die Tierseuchen. Es gibt mehr als 80 Tierkrankheiten, die man von Amtes wegen bekämpfen muss. Aber es kamen stetig neue Erreger dazu. Die Bekämpfung des Rinderwahnsinns und der Vogelgrippe war am intensivsten.
Rinderwahnsinn, kurz BSE, erreichte im Aargau 2001 den Höhepunkt. Wie erlebten Sie diese Zeit?
Wir wussten nur, dass die Krankheit unheilbar war und auch Menschen infiziert werden konnten. Die Erforschung von BSE war damals noch nicht ausgereift, die Krankheit konnte erst nach dem Tod des Tieres definitiv festgestellt werden. Ich hatte die Verantwortung, die Schutzmassnahmen des Bundes ohne Wenn und Aber umzusetzen. Dazu gehörte, die Bauern und auch die Tierärzte mit den Symptomen von BSE bekannt zu machen. Schwankte eine Kuh beim Gehen, magerte ab oder war schreckhaft, musste das sofort gemeldet werden. Erkrankte Tiere wurden getötet. Das war hart für die Bauern, aber auch für uns.
Und im Winter 2006 folgte die Vogelgrippe …
Das war mit Abstand die intensivste Zeit meiner Karriere. Europaweit herrschte Hochspannung. Die Medien haben damals nur darauf gewartet, bis der erste Fall in der Schweiz auftrat. Kaum wurde irgendwo ein toter Schwan entdeckt, brach sofort Panik aus. Aber Schwäne sterben nun mal im Winter.
Was passierte, als die Vogelgrippe die Schweiz dann doch erreichte?
Der erste Schweizer Fall von Vogel-grippe war eine infizierte Ente am Genfersee. Plötzlich klingelte mein Handy nonstop, ich habe nächtelang gearbeitet und musste rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Im Aargau folgten vereinzelte Fälle bei Wildvögeln. Wir mussten verhindern, dass auch Nutzgeflügel infiziert wurde. Deswegen sperrte man alle Hühner den ganzen Winter lang ein.
Auf was sind Sie besonders stolz?
Auf die Schaffung eines kantonalen Tierseuchenfonds, der 2008 vom Grossen Rat angenommen wurde. Aus dem Fonds werden Bauern entschädigt, deren Tiere wegen einer Seuche sterben, oder es werden Tierarztkosten und Laboruntersuchungen finanziert.
Neben der Seuchenbekämpfung ist der Tierschutz ein grosses Thema in Ihrem Beruf. Welche Fälle werden Ihnen in Erinnerung bleiben?
In einer kleinen Vier-Zimmer-Wohnung hielt eine junge Frau 216 Vögel. Sie waren überall, in der Küche, im Bad, im Schlafzimmer. Schlug man die Bettdecke zurück, flatterten einem Nymphensittiche entgegen. Aber für die Frau waren die Vögel Schätze. Sie hat das Leid der Tiere gar nicht wahrgenommen.
Wie gingen Sie vor?
Die Wohnung musste geräumt werden, Staatsanwaltschaft und Polizei waren involviert. Die Frau litt sehr, als man ihr ihre Vögel wegnahm. Ich musste mich fürs Tierwohl einsetzen, aber darauf achten, die Rechte der Person zu wahren. In solchen Fällen wird die Kesb eingeschaltet und für psychologisch nachhaltige Betreuung gesorgt. Ist das Tier verwahrlost, ist es meist auch der Mensch. Das macht mich betroffen. Die Frau durfte sieben Vögel behalten.
2005 ereignete sich im Kanton Zürich ein tragischer Zwischenfall. Ein Bub wurde auf dem Schulweg von drei Pitbulls angefallen und getötet. «Das war absolut schockierend, der Fall wirkte wie ein Brandbeschleuniger», erinnert sich Erika Wunderlin. Denn daraufhin wurden schweizweit Anpassungen im Hundegesetz vorgenommen und Rasselisten eingeführt. Wunderlin war bei der Verschärfung der Vorschriften für Hundehalter im Kanton Aargau federführend. 2011 nahm die Bevölkerung das neue Hundegesetz mit einer Mehrheit von 75 Prozent an.
Gab es neben dem Tod des Zürcher Jungen noch weitere Gründe für Gesetzesänderungen?
Die Toleranz der Gesellschaft hat sich verändert – auch Hunden gegenüber. Wir leben in einer dichten, temporeichen Zeit. Das Tier hat, genau wie wir Menschen, nicht mehr so viel Raum. Es muss an das Umfeld angepasst sein. Beissende, bellende, böse Hunde kann man nicht mehr akzeptieren.
Wer ist schuld, Halter oder Hund?
Man kann sagen, dass der Hund von sich aus nicht böse ist, sondern der Halter ihn böse macht. Ein Problem ist, dass sich manche Personen Kampfhunde als Statussymbol halten. So, wie andere ein grosses Auto kaufen. Und wenn Tiere als Statussymbol angeschafft werden, wird es bedenklich.
Ab dem 31. März sind Sie offiziell im Ruhestand. Werden Sie den Beruf vermissen?
Ich war Aargauer Kantonstierärztin, das hat eine Beziehung zum Kanton geschaffen und zu den Menschen und den Tieren, die dort leben. Das werde ich vermissen.
In der neu gewonnenen Zeit will sich Erika Wunderlin mit ihrer Familiengeschichte befassen: «Es interessiert mich sehr, wie die Leute im Fricktal früher gelebt haben.» Wunderlin, die keine Kinder und auch keine Haustiere hat, kann sich zudem vorstellen, später ehrenamtlich tätig zu sein und «auch ohne wirtschaftlichen Druck der Menschheit zu dienen». Ende April startet Wunderlin eine Reise quer durch Amerika und Kanada. Den Camper hat sie bereits verschifft. «Das Fernweh und der Wunsch nach Weite haben mich erneut eingeholt.»
Barbara Thür löst Erika Wunderlin in ihrem Amt als Kantonstierärztin ab.
Das teilte das Departement Gesundheit und Soziales mit. Die 55-Jährige ist seit 2015 stellvertretende Kantonstierärztin und für die Bereiche Tiergesundheit und Fleischhygiene zuständig. Wie Wunderlin studierte Thür Veterinärmedizin an der Universität Zürich. Nach mehreren Jahren als praktizierende Tierärztin promovierte sie an der Universität Bern. Anschliessend war Thür wissenschaftliche Mitarbeiterin und danach Leiterin der Diagnostik für hochansteckende Tierseuchen am Institut für Virologie und Immunologie des Bunds. Gleichzeitig zu ihrer Arbeit beim Bund erlangte Thür 2011 ihre Habi-litation an der Universität zum Thema Blauzungenvirus.