Aargauer Solidaritätswelle: Wie Gewerbler für ihre Kollegen auf eine Mietreduktion verzichten

Die Schotten bleiben dicht. Für Restaurants, Läden, Fitnesszentren und viele mehr. Mindestens bis Ende Februar. Und schon bald dürfte der Bundesrat darüber diskutieren, ob er die Schliessungen nicht noch verlängern soll.

Für viele Betriebe wird das teuer. Hilfe gibt es zwar: Kurzarbeit, Erwerbsersatz, Fixkostenbeiträge und weitere. Der Aargau ist im kantonalen Vergleich sogar sehr grosszügig. Trotzdem bleibt die Lage für viele Gewerbler schwierig.

So ist gerade für die kleineren Betriebe die Miete ein grosses Problem: Sie muss weiter bezahlt werden, auch wenn die Einkünfte fehlen. National- und Ständerat haben Ende vergangenen Jahres eine mögliche Finanzhilfe abgelehnt. Ob ein Betrieb einen Mieterlass bekommt, hängt einzig vom Goodwill des Vermieters ab.

Aargauische Kantonalbank verzichtet auf 220’000 Franken

Und Goodwill gezeigt hat die Aargauische Kantonalbank (AKB). Bereits im Frühling hatte sie ihren gewerbetreibenden Mietern insgesamt 1,5 Monatsmieten erlassen. Auf rund 220’000 Franken verzichtete die AKB.

Und auch jetzt zeigt sich die AKB grosszügig. Erneut verzichtet sie auf rund 220’000 Franken. «Wir wissen um die finanziell schwierige Situation vieler Gewerbetreibenden», sagt Christine Honegger, Leiterin Kommunikation bei der AKB. «Wir wollen mit unserer Aktion dazu beitragen, dass wenn immer möglich, keine Gewerbetreibenden in Konkurs geraten und Arbeitsplätze verloren gehen.»

Grundsätzlich hätten alle Mieterinnen der AKB Anspruch auf einen Mieterlass für 1,5 Monate: sowohl das geschlossene Restaurant wie auch die offene Arztpraxis. Weil aber nun nicht alle Mieterinnen gleich stark unter der Pandemie leiden, hat sich die AKB etwas ausgedacht: Wer freiwillig auf seinen Mieterlass verzichtet, dessen Anteil wird stattdessen auf diejenigen aufgeteilt, denen es wirklich schlechtgeht.

40 Prozent der Mieter haben daraufhin auf Hilfe verzichtet. Insgesamt 90’000 Franken kommen dadurch denjenigen zugute, die finanziell am Anschlag sind. Diese Gewerbler müssen dank der Solidarität anderer drei ganze Monate lang keine Miete zahlen.

Wer verzichtet freiwillig auf 1,5 geschenkte Monatsmieten? Und auf der anderen Seite: Wer profitiert nun gleich doppelt? Und was bringt das alles? Wir haben mit sechs Gewerblern geredet.

1. Der Arzt, der verzichtet: «Es wäre unverschämt, das Geld anzunehmen»

In der Allergie und Haut AG, der Praxis von Hautarzt Paul Scheidegger in Brugg, läuft der Betrieb ganz normal. Oder so normal, wie das in einer Pandemie überhaupt möglich ist. Die Kunden und Mitarbeitenden tragen Masken, halten Abstand und regelmässig wird alles desinfiziert. Aber das Geschäft läuft. Ganz gut sogar: «Im Homeoffice haben die Leute mehr Zeit und beschäftigen sich dadurch auch mehr mit ihrer Haut», sagt Scheidegger. Und während das öffentliche Leben stillstehe, sei ein Arztbesuch noch eine legitime Freizeitbeschäftigung. Statt ins Pub zum Hausarzt, quasi.

Eingeschränkt war Scheidegger in der 1. Welle, als er nur noch Notfälle behandeln durfte. Ausserdem musste er Masken und Desinfektionsmittel kaufen, die Abläufe umstellen, sich anpassen. All das habe sich mittlerweile aber eingependelt, mit dem 2. Lockdown änderte sich für Scheidegger eigentlich nichts mehr. Darum verdiene er den Mieterlass gar nicht, sagt er: «Es wäre unverschämt, das Geld anzunehmen, wenn es andere dringender brauchen. Es ist nur vernünftig, dass ich verzichte.»

2. Der Coffee-Shop-Betreiber, der profitiert: «Das ist eine Wahnsinnsgeschichte»

Im «Home Barista Shop», dem Coffeeshop von Philippe Gacond und Iwan Müller in Aarau, ist es finster. Das kleine Restaurant und der Laden sind seit Ende Dezember geschlossen. Den Take-away versuchten die beiden anfangs noch aufrechtzuerhalten. Doch das rentierte sich nie so richtig. Und als die Homeoffice-Pflicht Mitte Januar kam, hörten Gacond und Müller auch damit auf. «Es war ein Durststreckenjahr», sagt Gacond. Und Müller ergänzt: «Unser Erspartes schmilzt dahin wie Schnee in der Sonne.»

Noch müssen die beiden nicht gerade ganz aufgeben. Sie bekommen finanzielle Hilfe vom Kanton. Trotzdem haben sie Kosten, die nicht gedeckt sind. Etwa den Lohn von Eigentümer Gacond. Dank der Hilfe von Kanton und AKB verlieren sie nun nicht noch mehr Geld. «Das ist eine wahnsinns Geschichte, was die AKB hier macht», sagt Gacond. Doch nicht nur finanziell würde es helfen: «Es ist auch extrem motivierend und zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Die Wertschätzung für unsere Arbeit ist vorhanden.»

3. Der Apotheker, der verzichtet: «Wir sind privilegiert, denn wir haben Arbeit»

Max Kuhn und das Team in seiner Apotheke in Brugg sind gefordert: Medikamente verkaufen, Menschen beraten, sich auf die Massentests und Impfungen vorbereiten: «Wir haben Arbeit», sagt Kuhn. Und das weiss er zu schätzen: «Ich kann die Miete bezahlen und muss niemanden entlassen. Wir sind privilegiert.» Einbussen hat aber auch er: Und zwar in sämtlichen Bereichen, die nicht Arzneimittel sind. Trotzdem verzichtet er auf eine Mietreduktion.

Denn Kuhn weiss, wie es anderen geht. Er hat Kinder, die in der Gastronomie tätig sind. «Dort läuft gar nichts mehr. Und wenn viele Menschen in die Arbeitslosigkeit fallen, ist das nicht nur für die Betroffenen brutal, sondern auch für die Volkswirtschaft.» Ausserdem engagiert sich Kuhn für das Kulturhaus Odeon und weiss um die schlimme Lage der Kulturbranche. «Ich finde es deshalb gut, dass ein Finanzinstitut mit so einer Idee daherkommt.»

4. Die Kosmetikerin, die profitiert: «Das ist einfach eine Bombe»

Astrid Gisler arbeitet im Moment nur etwa zu 50 Prozent. Ihr Kosmetik-Geschäft in Rheinfelden hat sie grundsätzlich zwar offen: Sie arbeitet mit FFP2-Masken und einem Visier. Doch viele ihrer Kundinnen sind älter. Und sie selbst können bei Gesichtsbehandlungen keine Maske tragen. Darum machte Gisler sie auf dieses Risiko aufmerksam. «Ich bin meinen Kunden bei der Behandlung sehr nahe. Und ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass ich jemanden anstecke.» Auch wenn sie alle Vorgaben des BAG umsetze. Die Hälfte ihres Umsatzes fällt dadurch weg.

Weil sie aber gleichzeitig grundsätzlich offen hat, hat sie keinen Anspruch auf Hilfsprogramme. Angestellte hat sie keine. So muss Gisler «nur» sich selbst privat einschränken, damit das Geschäft überleben kann. Wie lange es so weitergehen kann, das weiss sie aber nicht. «Ich wollte mir die Frage gar nie stellen. Ich bin optimistisch und hoffe, dass es schon irgendwie weitergeht.» Dank der Mietreduktion geht es nun sicher noch etwas länger weiter. Dafür sei sie gleich doppelt dankbar: Zum einen dafür, dass die AKB das von sich aus gemacht habe – Gisler hat gar nicht um eine Mietreduktion gebeten. «Und zum anderen, weil so viele andere Gewerbler freiwillig verzichten und ich dadurch drei Monatsmieten geschenkt bekomme. Das ist einfach Bombe.»

5. Die Apothekerin, die das Geld ihren Mitarbeitern weitergibt: «Die Belastung ist extrem hoch»

Die Tage für Edith Wüest in der Löwen Apotheke in Reinach sind länger als sonst. Und das schon seit einer ganzen Weile. Sie beantwortet zahlreiche telefonische Anfragen von verunsicherten Menschen. Sie muss die Apotheke auf die Impfungen vorbereiten. Und Menschen, die in Quarantäne sind oder sonst das Haus nicht mehr verlassen, beliefert sie mit Medikamenten. Dadurch hat Wüest keine Einbussen, sondern im Gegenteil: Sie und ihr gesamtes Team haben viel mehr zu tun.

Darum hat sich Wüest entschieden, nicht auf den Mieterlass der AKB zu verzichten, das Geld aber anders einzusetzen: «Weil die Belastung meiner Angestellten extrem hoch ist, zahle ich ihnen dieses Geld als Bonus aus.» Denn gerade das nach Hause liefern der Medikamente sei sehr aufwendig. Die Apotheke beliefert mehrere Dörfer in der Umgebung. Je nachdem, wo ein Kunde etwas brauche, würde diejenige Mitarbeiterin, die noch am nächsten wohne, die Medikamente nach Feierabend vorbeibringen. Und dabei gerade mit der Person ins Gespräch kommen, um herauszufinden, wie es ihr gesundheitlich gehe.

6. Die Wirtin, die profitiert: «Ich bin überwältigt»

Das Café Bank in Wohlen steht leer. Wirtin Käthi Baumann hat nichts zu tun. Wie alle Gastro-Betriebe ist ihr Café seit Ende Januar geschlossen. Das schöne Wetter im Sommer habe sie dann ein Stück weit gerettet: Die Plätze auf der Terrasse draussen waren immer gut besetzt. Doch als das Wetter schlechter und die Massnahmen strenger wurden, wurde es auch für Baumann wieder schwieriger. Bis sie wieder vor ihrem leeren Café stand. Unterstützung hat sie beantragt, Hilfe vom Kanton sollte sie noch bekommen. Bis jetzt hat sie aber kein Geld gesehen.

«Wir leben jetzt von den Reserven und müssen zum Glück noch nicht gerade ganz schliessen», sagt sie. Nur: Wann sie wieder aufmachen darf, und unter welchen Auflagen, das weiss Baumann nicht. Umso mehr hilft ihr der Mieterlass: Dank der Solidarität anderer Gewerbler werden ihr drei ganze Monatsmieten erlassen. «Ich bin überwältigt. Ich hätte nie damit gerechnet, dass man so solidarisch ist mit uns.» Gerade in der heutigen Zeit, wie sie sagt, in der man sonst eher profitieren würde, wenn sich die Gelegenheit biete. Egal ob man es nötig habe oder nicht.