
Aargauer Volksschule gehen Lehrpersonen aus – Schulleiter kritisieren Alex Hürzeler
Jedes Jahr müssen im Aargau rund 470 Lehrpersonen an der Volksschule ersetzt werden. Von der Pädagogischen Hochschule kommen aber nur 250 bis 300 neue Lehrerinnen und Lehrer an die Aargauer Schulen.
Das hat Konsequenzen für den Schulbetrieb: An zahlreichen Schulen mussten Notlösungen getroffen werden, damit der Unterricht stattfinden kann. So wurden Klassen zusammengelegt, das Fächerangebot wurde reduziert, heilpädagogische Massnahmen können nicht oder nur teilweise angeboten werden. Und es unterrichten vielerorts Lehrpersonen, welche die an sich vorgeschriebene Ausbildung nicht aufweisen. Das führt dazu, dass etablierte Lehrpersonen und Schulleitungen häufig zusätzliche Aufgaben übernehmen müssen: Sie betreuen und coachen die Quer- und Neueinsteiger.
Die Kompromisse bei der Stellenbesetzung nehmen ständig zu und die Lösungen werden unbefriedigender. «Solche Notmassnahmen sind keine Lösungen», sagt Philipp Grolimund, Co-Präsident des Schulleiterverbandes. Zwar sei die Anstellung von Lehrpersonen Aufgabe der Schulen vor Ort, sagt Grolimund. Doch die Schulleitungen fühlten sich oft vom Kanton im Stich gelassen. Der Ernst der Situation werde vom Bildungsdepartement heruntergespielt. Er sehe weder ein griffiges Konzept noch konkrete Lösungsangebote. «Nur schon etwas Transparenz und Offenheit vonseiten des Kantons wären hilfreich», sagt Grolimund und erzählt von Schulleitenden, die sich als Versager fühlen, weil es ihnen nicht gelingt, rechtzeitig genügend qualifizierte Lehrpersonen zu finden.
Lohn ist künftig nicht mehr nur altersabhängig
Der Kanton gehe den Lehrermangel durchaus aktiv an, entgegnet Christian Aeberli, Leiter der Abteilung Volksschule. Er verweist auf geplante und eingeleitete Massnahmen: So hat das Bildungsdepartement (BKS) für alle Schulleitungen ein Merkblatt verfasst mit Tipps für den Umgang mit nicht besetzten Stellen. Zudem hat der Kanton Stelleninserate im deutschsprachigen Ausland aufgeschaltet. Weiter werden die Studierenden an der Pädagogischen Hochschule dazu aufgerufen, während ihres Studiums zur Lehrperson teilzeitlich zu unterrichten.
Die Neuressourcierung, also die Zuteilung finanzieller Mittel an die Schulen, ermögliche es den Schulleitungen, künftig grössere Pensen zu verteilen, aber auch den Lehrpersonen eine gewisse Pensensicherheit zu gewähren, erklärt Aeberli. Zudem möchte der Kanton in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule ein niederschwelliges Ausbildungsangebot für Quereinsteiger und Wiedereinsteiger lancieren.
Vor allem aber setzt man im Kanton auf das neue Lohnsystem, das ab dem Schuljahr 2021/22 zum Einsatz kommen soll. Das neue System soll die Lohndifferenz zu den Nachbarkantonen verringern. Vorgesehen ist zudem, dass der Lohn nicht mehr nur altersabhängig ist, sondern auch Funktion, Verantwortung, Aus- und Weiterbildung werden lohnrelevant.
Auch für Schulleiter Grolimund ist das neue Lohnsystem zentral. Dass es neben der besseren Bezahlung auch Laufbahnoptionen enthält, findet er wichtig und richtig. «Denn dadurch wird der Beruf auch bei den Männern wieder an Attraktivität gewinnen», sagt Grolimund.
Erfahrene Berufsleute erhalten Zugang «sur Dossier»
Und was tut die Pädagogische Hochschule gegen den Lehrermangel? «Wir versuchen, unseren Studierenden mit unserem modularen Studiensystem zu ermöglichen, während des Studiums Teilzeit zu unterrichten», erklärt Sabina Larcher, Direktorin der Pädagogischen Hochschule. Der Beschäftigungsgrad aber sollte 50 Prozent nicht übersteigen. Das modulare System ermögliche es den Studierenden zudem, Studium, Familie und Arbeit zu vereinbaren. «Mittelfristig versuchen wir, unser System noch weiter mit den Bedürfnissen der Studierenden und des Berufsfeldes abzustimmen», sagt Sabina Larcher. Zudem biete die Pädagogische Hochschule einen attraktiven Zugang für Quereinsteigende an. So haben erfahrene Berufspersonen «sur Dossier» Zugang zu den Studiengängen; Personen mit Hochschulabschluss können mit individueller Anrechnung von bereits erbrachten Studienleistungen rechnen.
Ein volles Pensum ist kaum mehr zu schaffen
Manfred Dubach, Geschäftsführer des aargauischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes (alv), sagt es pragmatisch: «Kurzfristig gibt es wohl nicht viele Möglichkeiten, den Lehrermangel in den Griff zu kriegen.»
Das habe Folgen: «Wenn immer mehr nicht oder ungenügend ausgebildete Lehrpersonen vor den Klassen stehen, nimmt die durchschnittliche Qualität des Unterrichts ab.»
Das Geld, das der Kanton spart, weil ungenügend ausgebildete Lehrpersonen weniger Lohn erhalten, sollten die Schulen erhalten, fordert Dubach. «Es wäre zynisch, wenn der Kanton am Lehrermangel auch noch verdienen würde», sagt er. Seiner Meinung nach könnten die Schulen dieses Geld sehr gut für die Betreuung der neuen und nichtausgebildeten Lehrpersonen brauchen.
Mittelfristig aber gehe es darum, den Lehrerberuf und die Arbeitsbedingungen wieder konkurrenzfähig zu machen. Und zwar im Vergleich zu anderen Kantonen. Aber auch im Vergleich zu anderen Berufen.
Das neue Lohnsystem sieht er als ersten und wichtigen Schritt in diese Richtung. Auch, weil es eine lohnmässige Differenzierung innerhalb der Tätigkeit vorsieht.
Dubach plädiert weiter dafür, dass junge Lehrpersonen, die direkt von der Pädagogischen Hochschule kommen, nicht die ganze Verantwortung für eine Klasse übernehmen müssen, sondern von Fachpersonen begleitet und unterstützt werden.
Nach Ansicht von Dubach müsste man auch neu definieren, was ein 100-Prozent-Pensum im Lehrerberuf bedeutet. «Es ist eine Tatsache, dass die meisten Lehrpersonen Teilzeit arbeiten, weil das, was heute als volles Pensum gilt, oft kaum noch zu schaffen ist.» Eine Anpassung der Pflichtlektionen für ein Vollpensum nach unten würde den Beruf wieder attraktiver machen, sagt Dubach.