
Alles Notlösungen: Der Lehrermangel treibt Studentinnen und Kindergärtner in die Klassenzimmer
Als das neue Schuljahr begonnen hat, gab es für jede Aargauer Schulklasse eine Lehrerin oder einen Lehrer. Dabei waren wenige Tage zuvor auf dem Stellenportal für Lehrpersonen noch rund 130 Stellen mit Antritt am 9. August ausgeschrieben. «Die Schulen funktionieren, aber der Lehrermangel ist akut», sagt Philipp Grolimund, der Präsident des Schulleiterverbands. Denn viele der unterrichtenden Lehrpersonen sind noch Studentinnen, Kindergartenlehrpersonen oder Betreuerinnen.
Oder sie kommen gar aus einer völlig anderen Branche wie jene Person, die im August im solothurnischen Grenchen als Heilpädagogin eingestellt wurde, obwohl sie statt eines Diploms in einem pädagogischen Beruf lediglich ein Wirtepatent mitbrachte. Erst nachdem Lehrerverband und Presse auf diesen Missstand aufmerksam wurden, löste die Schulleitung das Anstellungsverhältnis wieder auf.
Schulleitungen gehen Kompromisse ein
Derart offensichtliche Fälle sind Philipp Grolimund aus dem Aargau nicht bekannt. Doch auch hier stellen Schulleitungen und Schulpflegen Jahr für Jahr Lehrpersonen und Fachlehrpersonen ohne die nötigen Qualifikationen ein – weil sie keine andere Wahl haben. «Leider müssen wir diese Kompromisse eingehen, wenn sich keine ausgebildeten Lehrpersonen bewerben», sagt Grolimund.

Philipp Grolimund.
Es gilt, dass nur Lehrpersonen angestellt werden sollen, die einen Abschluss für die entsprechende Funktion haben, das ist in aller Regel ein Masterstudium. Gesetzlich vorgeschrieben ist das aber nicht, auch die Anstellung der Wirtin in Grenchen wäre rechtens gewesen. Im Aargauer Schulgesetz ist als Voraussetzung lediglich «die erforderliche fachliche, pädagogische und methodisch-didaktische Qualifikation» festgehalten.
Zwingend ein fachliches Problem sei das nicht, so Grolimund, aber es sei immer mit Aufwand für die Schule verbunden: «Eine Kindergartenlehrperson kann auch eine Primarschulklasse unterrichten. Aber es ist nicht das, wofür sie ausgebildet wurde. Bevor sie genügend qualifiziert ist für die neue Aufgabe, braucht sie Unterstützung von erfahrenen Lehrpersonen.» Gleich verhalte es sich bei allen Quereinsteigern oder Studierenden. Und das wirke sich auf die Abläufe, die Kolleginnen und Kollegen, Eltern und Lernende aus.
Der «versteckte» Lehrermangel
Neben dem in Stelleninseraten sichtbaren gebe es eben auch diesen versteckten Lehrermangel. Philipp Grolimund sagt:
«Organisatorisch wird das Problem zwar gelöst. Die Qualität der Schule aber leidet, wenn ungenügend qualifizierte Lehrerinnen und Lehrer unterrichten.»
Es müsse sichergestellt werden, dass diese Lehrpersonen die nötigen Qualifikationen erwerben; dafür brauchen sie Unterstützung. Für Grolimund ist klar, dass dafür der Kanton zuständig ist. Massnahmen gegen den Lehrermangel und für die Attraktivität des Berufs hat das Bildungsdepartement zwar längst in Angriff genommen, was absolut zentral sei, aber: «Bis diese greifen, wird der aktuelle Mangel noch jahrelang anhalten.»
Daten werden bisher nicht erhoben
Im letzten Schuljahr arbeiteten an der Aargauer Volksschule 8’947 Lehrpersonen in 5’758 Vollzeitstellen. Wie viele davon ungenügend qualifiziert unterrichteten, weiss niemand, erhoben werden diese Daten gesamtkantonal nicht. Damit das Problem angegangen werden kann, müsse zumindest das geklärt sein, findet die SP im Grossen Rat. Sie fordert vom Regierungsrat ein Monitoring. Nur wenn Daten gesammelt, systematisch aufbereitet, analysiert und interpretiert würden, könne die Politik Massnahmen beschliessen, schreibt die Fraktion in ihrem Postulat.
Dass mit kantonalen Imagekampagnen und besseren Löhnen mehr Leute für den Beruf begeistert werden sollen, sei gut und recht, sagt SP-Grossrat Alain Burger, es reiche aber kurzfristig nicht, um dem Mangel zu begegnen. Der Berufsschullehrer sagt:
«Das schlechteste Szenario für eine Schulleitung ist, dass sich für die Stelle gar niemand findet. Die zweite, sehr zentrale Frage ist aber, wie die gefundene Person ausgebildet ist.»

Alain Burger, SP-Grossrat.
Eine Erhebung über den Ausbildungsgrad in der Lehrerschaft löse das Problem zwar nicht, sie liefere aber eine fundierte Grundlage, um auch den versteckten Lehrermangel zu beheben. Es gehe dabei nicht darum, den Quereinstieg zu erschweren, sondern die Auswirkungen aufzuzeigen und Massnahmen gegen den drohenden Qualitätsverlust einleiten zu können.
«Hier muss der Kanton Verantwortung übernehmen», so Alain Burger. Warum bisher keine Daten zu den Qualifikationen der Lehrpersonen vorliegen, erschliesse sich ihm nicht. «Aber haben wir diese einmal erhoben, braucht es gezielte Massnahmen, insbesondere bei den Weiterbildungen.»
Kanton spart durch Personalmangel
Der eklatante Personalmangel ist bei der kürzlich abgehaltenen Generalversammlung des Schulleiterverbands als grösstes Problem der Schule gesehen worden. Auch der Verband fordert darum eine Analyse über die Qualifikationen der Lehrpersonen.
Weiter werde erwartet, dass der Kanton für die Begleitung von ungenügend qualifizierten Lehrpersonen die nötigen Ressourcen zur Verfügung stellt, sagt Philipp Grolimund. Das Geld dafür sei bereits vorhanden, schliesslich müssen Lehrpersonen ohne Diplom einen Lohnabzug von fünf Prozent verschmerzen.
«Mindestens diese Ressource kann kostenneutral für die Nachqualifizierung eingesetzt werden.»
Der Kanton spare aber insgesamt durch den aktuellen Personalmangel an den Schulen massiv, sei es, weil dieser Klassenzusammenlegungen, gestrichene Angebote oder nicht besetzte Vertretungen nach sich ziehe. «Der ganze Topf der Volksschule Aargau wird dadurch bei weitem nicht verwendet, aber die Schulleitungen werden mit den zu wenig qualifizierten Lehrpersonen allein gelassen», so Grolimund.
Debatte frühestens im Frühling
In der Politik ist es angekommen. Bei der Genehmigung des Berichts der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) im Grossen Rat am 14. September war der Fachkräftemangel an Schulen zuletzt ein Thema. Die Fraktionen zeigten sich besorgt über die tiefen Studierendenzahlen an der Pädagogischen Hochschule der FHNW in Brugg-Windisch. Gemessen am Bedarf beginnen dort nämlich viel zu wenige Aargauer Studierende ihre Ausbildung. Das müsse man im Auge behalten.
Schnelle Lösungen erwartet Alain Burger jedoch nicht. «Derzeit liegt der Fokus der Schulen und des Bildungsdepartements auf dem Umgang mit der Coronapandemie, da sind alle sehr gefordert. Dennoch müssen wir das Thema jetzt angehen.» Für den nächsten Frühling hofft er auf die Debatte zum SP-Vorstoss im Grossen Rat.