
«Am Anfang ist es eine Katastrophe»: Zwei Verwahrte erzählen, was auf Thomas N. zukommt
Thomas N. (34) wird nach seiner lebenslänglichen Freiheitsstrafe ordentlich verwahrt. Nach der Verbüssung seiner Haftstrafe wird erstmals nach zwei Jahren und danach mindestens einmal jährlich überprüft, ob er noch immer eine Gefahr darstellt oder ob er bedingt aus der Verwahrung entlassen werden kann.
Eine vergangene Woche publik gemachte Studie der Universität Freiburg zeigt, dass zwischen 2004 und 2017 nur gerade zwei Prozent der beurteilten Verwahrten bedingt entlassen worden sind. Die Chance, dass auch Thomas N. dereinst wieder ein freier Mann sein wird, sind statistisch gesehen also extrem klein.
Wie gehen Verwahrte mit dem Gedanken um, nie mehr freizukommen? Im vergangenen Oktober haben zwei Reporter dieser Zeitung die beiden verwahrten Straftäter Norbert Hochstrasser (63) und Max Kuster (62, Name geändert) besucht und sie genau das gefragt. Beide sitzen in der Justizvollzugsanstalt Lenzburg, beide waren zuvor aber auch schon im Gefängnis Pöschwies, wo Thomas N. derzeit inhaftiert ist.
Bis zum letzten Atemzug: Zu Besuch bei zwei verwahrten Schwerverbrechern
Der Gefängnisaufseher zeigt, wo der Alarmknopf ist, und fragt: «Ist es okay, wenn ich die Türe schliesse?» Dann schnappt das Schloss zu und wir sitzen alleine mit unserem Gesprächspartner, einem Schwerverbrecher, im Aufenthaltsraum des Gefängnisses Lenzburg. Ohne Trennscheibe, ohne Handschellen. Oberhalb des Türrahmens blinkt das kleine Licht einer Überwachungskamera. Die Fenster sind vergittert.
An zwei unterschiedlichen Tagen erzählen zwei Verwahrte über ihren Gefängnisalltag: Norbert Hochstrasser (63), ein Mörder, und Max Kuster* (62), ein Vergewaltiger. Beide leben in der Seniorenabteilung der Anstalt. Und beide werden voraussichtlich hier sterben. Mit ihrem Schicksal gehen sie unterschiedlich um. Der eine kämpft dagegen an, der andere hat resigniert. Kuster hofft auf Freiheit, Hochstrasser hofft nicht mehr.
Verwahrt werden in der Schweiz jene Straftäter, die auch nach dem Verbüssen ihrer Freiheitsstrafe als gefährlich gelten. Die Verwahrung ist keine Strafe, sie ist eine Schutzmassnahme für die Gesellschaft. Hochstrasser und Kuster wurden von Gerichten zu einer ordentlichen Verwahrung verurteilt. Das bedeutet, dass jährlich überprüft wird, ob sie noch gefährlich sind. Hochstrasser und Kuster sind zwei von 144 Verwahrten. Für viele von ihnen dauert die Massnahme lebenslänglich, weil die Gutachter keine positive Prognose abgeben.
Schwerkranke Verbrecher
Es ist 9 Uhr und Hochstrasser schaut uns erwartungsvoll an. Seine weissen Haare sind vom Zigarettenrauch gelb verfärbt. Er hat Wasser in den Beinen, kann kaum noch gehen, nimmt jede Woche zwei Kilo zu. 144 sind es jetzt schon. Rasieren kann er sich nicht mehr selbstständig. Dabei hätte er sich fürs Foto gerne einigermassen herrichten wollen, sagt er. Seit dem 14. Januar 1994 sitzt er im Gefängnis, die letzten vier Jahre in der Lenzburger Altersabteilung. Er sagt: «Ich werde hier sterben. Und wenn ich bedenke, was ich getan habe, dann geht das in Ordnung.»
Er sagt, die Öffentlichkeit habe ein falsches Bild vom Verwahrungsalltag. Wenn er im Fernsehen SVP-Politikerin Natalie Rickli zuhöre, wie sie über Verwahrte schimpfe und behaupte, sie lebten wie im Hotel, dann werde er wütend. Kuster wünscht sich, dass die Verwahrung in der Schweiz wie in Skandinavien strikt vom Strafvollzug getrennt wäre. Verwahrte sollten unter lockereren Bedingungen in einer eigenen Station untergebracht werden, fordert er. Viele Kollegen lehnen das allerdings ab, da sie nicht nur unter ihresgleichen sein wollen.
Ein Leben der Gewalt
Hochstrassers kriminelle Karriere begann in den Siebzigerjahren. Mehrmals brachte er Menschen in seine Gewalt und zwang sie zu Irrfahrten. 1990 wurde er wegen Erpressung, Brandstiftung und Freiheitsberaubung verurteilt und verwahrt. Vier Jahre später wurde er wegen guter Führung in die Halbgefangenschaft entlassen. Im Januar 1997 drang er mit einem Komplizen in die Stadtzürcher «Pension Neugut» ein, in der er auf seinem Weg in die Freiheit einige Zeit gelebt hatte. Sein Komplize fesselte den stellvertretenden Heimleiter und einen zufällig anwesenden Bewohner, legte sie auf ein Bett und deckte sie zu. Als der Heimleiter um Hilfe schrie, schoss Hochstrasser mit seiner Pump Action auf die beiden Gefesselten. Der Bewohner war sofort tot, der Heimleiter überlebte schwer verletzt und nahm sich zehn Monate später mit Exit das Leben.
Hochstrasser stellte sich am nächsten Morgen der Polizei. «Ich habe mich bewusst für den Gang ins Gefängnis entschieden.» Über sein Tatmotiv sprechen möchte er nicht. Es habe persönliche Differenzen gegeben zwischen ihm und dem Heimleiter. «Aber man soll über Tote nicht schlecht reden.» Dass er die beiden Menschen umgebracht habe – Hochstrasser nimmt auch den Tod des Heimleiters auf sich –, das sei «ein Blödsinn» gewesen. «Nicht nur wegen der Opfer, auch wegen mir.» Er wurde im November 2000 zu einer Zuchthausstrafe und Verwahrung verurteilt. Die Schwester des Heimleiters habe ihm im Gerichtssaal verziehen, erzählt der Mörder. «Hätte sie das nicht gemacht, würde ich heute noch leiden.» So aber habe er seinen Frieden.
Kuster schlug 1983 das erste Mal zu. Einer Prostituierten rammte er achtmal einen Dolch in den Bauch und in den Rücken. Eine andere würgte und vergewaltigte er, eine dritte bedrohte er mit einem Messer. Dreimal musste er ins Gefängnis, zehn Jahre verbrachte er danach in der Verwahrung. Ein Jahr nachdem er freigekommen war, traf er sich mit einer Prostituierten am Türlersee. Als sie seinen Wunsch nach Sex ohne Gummi ablehnte, wurde er wütend, schlug auf sie ein, würgte sie. Er befahl ihr, sich auszuziehen. Sie gehorchte in der Hoffnung, er würde sich beruhigen. Er packte sie am Hals und vergewaltigte sie. Als er später ein zweites Mal Sex wollte, konnte sie fliehen. Nackt rannte sie eine halbe Stunde durch den Wald, bis sie bei einem Restaurant auf Leute stiess. Kuster war im Auto davongefahren, ihre Kleider hatte er weggeworfen.
Kuster arbeitet bis heute daran, seine Taten zu verstehen. Viel Hilfe habe er dafür bisher nicht erhalten. Während seiner ersten Verwahrung habe er ein einziges Treffen mit einem Therapeuten gehabt, mehr nicht. Nun unterstütze ihn eine Therapeutin bei der Vergangenheitsbewältigung. «Wenn ich weiss, was schiefgelaufen ist, kann ich es korrigieren», sagt er. Die Frage nach dem, was schiefgelaufen ist, die führt für Kuster tief in seine eigene Kindheit.
Kusters Erzählung beginnt mit einem Sennenhund namens Bobby, ein Geschenk des Grossvaters für den fünfjährigen Max. Der Hund war sein Beschützer, der knurrte und bellte, wenn die Kinder aus dem Dorf oder seine Eltern ihn wieder einmal verprügeln wollten. An einem Sonntag sei der Vater von der Jagd zurückgekommen, als der kleine Max mit Bobby spielte. Der Vater habe dem Hund ohne Vorwarnung aus zwanzig Metern in den Kopf geschossen. Treffsicher sei der Vater gewesen, jedes Schützenfest habe er gewonnen.
Weshalb er den Hund erschoss, kann sich Kuster bis heute nicht richtig erklären. Die Mutter war ihm auch keine Hilfe. Sie habe ihm beigebracht, dass ein Bub keine Tränen zeigen solle.
Seit den Taten der beiden Männer ist viel Zeit vergangen. Zeit, die immer in den gleichen Strukturen verrinnt. Von 7.30 bis 11.30 Uhr und von 13.10 bis 20 Uhr stehen die Zellentüren offen. Dann dürfen sie sich im Trakt frei bewegen. Beide verlassen ihre Zellen aber nur selten. Hochstrasser darf nicht mehr arbeiten, seit er einem der Aufseher in der Werkstatt mit dem Tod gedroht hat. Kuster kann nicht mehr arbeiten, da seine Finger zu schwach sind.
Auch selber kochen können die beiden nicht mehr. Hochstrasser stört das nicht: «Ich habe einen Privatkoch hier auf der Abteilung. Der zaubert mir täglich feinste Gerichte auf den Teller.» Der Koch, auch er ein verwahrter Schwerverbrecher, habe seine Spezialität kürzlich sogar der Gefängnisleitung aufgetischt: «Irenes Pastete». Hochstrasser zieht theatralisch die Luft durch die Nase. «Ein Gedicht, sage ich Ihnen.» Und ein seltener Ausbruch aus der Monotonie des Gefängnisalltages. «Ganz am Anfang ist das Leben hier drin eine Katastrophe», sagt Hochstrasser. «Sie müssen alles aufgeben, sind total fremdbestimmt, können kaum noch eigenständig denken.» Verzweiflung bestimme die ersten Jahre. Dann gewöhne man sich allmählich daran, finde sich mit dem Schicksal ab. Der Mörder nippt an seiner Cola und sagt: «Ich weiss, dass ich hier nur noch im Sarg rauskomme.»
Der Tod naht
Hochstrasser leidet an Diabetes und Asthma, kürzlich hatte er einen Herzinfarkt. Mehr als zwanzig Mal war er schon im Spital. Er laufe «wie ein besoffenes Huhn» herum, sagt er, den Notfallknopf griffbereit vor sich auf dem Salontischchen. Man schaue aber eigentlich gut zu ihm. Dass er keine Therapie erhält, stört ihn nicht. «Was will man denn bei mir therapieren?
Dass ich nicht töten soll, das weiss ich.» Hochstrasser lacht. Echte Emotionen habe er eigentlich keine mehr. Keine Trauer, als seine Eltern starben, nur selten Freude, etwa dann, wenn ihm die Heilsarmee zu Weihnachten neue Socken schickt. Sonst erhält er kaum je Post. Auch Besuch ist selten. Seine Schwester schaut alle sechs Monate mal vorbei. Wenn sie nicht mehr käme: Ihm wärs egal. «Ich bin zufriedener so, wies ist», sagt er.
Kuster zieht eine ganz andere Bilanz. «Mich hat die Verwahrung härter gemacht», sagt er. Wenn er früher Bilder von Verletzten oder Verunglückten sah, habe ihn der Anblick betroffen gemacht. Heute spüre er weniger Mitgefühl. Es sei ein Teufelskreis: «Die Verwahrung macht die Menschen nicht besser.» Er fühle sich wie ein Tier, das in die Ecke gedrängt werde. Auch mit der medizinischen Versorgung ist er unzufrieden. Seit Anfang Jahr kommt der Arzt nicht mehr persönlich vorbei, sondern wird über Video zugeschaltet. Dieser Telearzt verschreibe ihm dann ein paar Tabletten, aber helfen könne er ihm nicht.
Mit Kusters Gesundheit geht es stetig abwärts. Paradoxerweise ist das seine einzige Hoffnung. Vor Gericht kämpft er für seine Freilassung mit dem Argument, er wäre gar nicht mehr in der Lage, eine Vergewaltigung zu begehen. Zuerst lehnten die Gerichte das Gesuch ab.
Entscheidend sei, ob er eine Tat begehen wolle, und nicht, ob er sie begehen könne. Doch kürzlich gab ihm das Bundesgericht Recht: Es entschied, dass keine ernsthafte Gefahr für weitere schwere Gewalt- und Sexualstraftaten bestehe, wenn der Täter aufgrund körperlicher Einschränkungen dazu nicht mehr in der Lage sei. Ein Erfolg für Kuster. Nun muss ein Gutachter klären, zu wie viel Gewalt er überhaupt noch fähig ist.
Hochstrasser hat für Kusters Kampf nur ein müdes Lächeln übrig. Rauskommen? Das wolle er nicht. «Wozu denn? Wenn Sie mir jetzt die Schlüssel gäben, dann würde ich mich weigern, das Gefängnis zu verlassen.» Die Altersabteilung in Lenzburg – sie ist eine von zwei Einrichtungen dieser Art in der Schweiz – sei für ihn das «Non-Plus-Ultra». «Ich bin versorgt. Wenn irgendwas ist, ‹chömeds sofort z’seckle›.» Er habe keine Erwartungen mehr, keinen Wunsch, er wolle nicht mehr kämpfen. «Wenn Sie fast 25 Jahre gesessen sind, dann stört es Sie nicht mehr, wenns noch einmal 25 Jahre werden.»
Hochstrasser und Kuster kennen sich seit Jahrzehnten. Sie sassen schon zusammen in der Strafanstalt Pöschwies. Ist das nicht zermürbend, jahrelang von Verbrechern umgeben zu sein? Nein, sagt Hochstrasser. Man lerne, über die Taten eines Menschen hinwegzuschauen. Er habe sich nach Jahren sogar mit Kinderschändern gut verstanden. Und mit Kuster? «Er ist ein guter Kollege, hat aber immer ‹e dummi Schnorre›», sagt Hochstrasser. Und was denkt Kuster über seinen Knastkollegen? «Ich schätze ihn, aber er ist ein bequemer Mensch. Ihm gefällt es hier, weil er Mühe hätte, sich draussen zurechtzufinden.»
Eines aber haben die beiden Männer gemeinsam. Sie verbringen täglich mehrere Stunden in der digitalen Parallelwelt des Computerspiels «Sims 3». Verwahrte dürfen im Gegensatz zu Gefangenen im Strafvollzug einen Computer besitzen, allerdings ohne Internetzugang. Ziel des Spiels ist es, eine Figur aufzubauen und durchs Leben zu begleiten. «Da jage ich die Hühner rum», sagt Hochstrasser und meint: Er helfe seinen weiblichen Figuren, die Herausforderungen des Alltags zu meistern.
Sein Sims-Charakter ist eine Köchin. Sie sei ausgeglichen und völlig harmlos. «Wie sie heisst? Keine Ahnung, ist mir egal.» Wenn sie dereinst Kinder kriegen sollte, dann werde er deren Alterungsprozess beschleunigen. «Mit Kindern kann ich nichts anfangen. Genauso wenig wie mit Kriegsspielen. Dieses Rumgeballere ist mir zuwider», sagt der Mörder.
Alterungsprozess ausgeschaltet
Kuster blüht auf, wenn er vom Computerspiel erzählt. Dort führt er das Leben, das er draussen nicht führen konnte. Er hat eine virtuelle Familie gegründet. Der Vater heisst Max – wie er – und sei ein ruhiger Typ, der am liebsten am See fischen gehe. Mit seiner Frau Sumi habe er fünf Söhne und zwei Töchter gross gezogen, alle mit Hochschulabschluss. Und das mit dem Älterwerden der eigenen Kinder, das sieht Kuster gänzlich anders als sein Zellennachbar: Die Kinder würden viel zu schnell altern, findet er. Deshalb hat er das Spiel so eingestellt, dass die virtuellen Kinder nur dann ein Jahr älter werden, wenn er ihnen im Lebensmittelladen eine Geburtstagstorte kauft. Er besorge fast nie eine. Kuster sieht eine Parallele zu seinem eigenen Leben: «Die Zeit am Handgelenk bleibt stehen, aber die biologische Uhr, die rast.»
Es ist 11 Uhr, die Besuchszeit ist um. Kuster geht zurück in seine vier Wände und starrt durch das Gitter nach draussen auf die Graffiti, die Künstler auf die Betonmauern gesprüht haben. Sie vermögen seine Stimmung nicht aufzuhellen. «Diese kitschige Wandmalerei ist eher etwas für einen Kindergarten», sagt er. Eingesperrt sei eingesperrt, Farbkleckse hin oder her.
Hochstrasser gefallen die Malereien. Er zündet sich eine Zigarette an und blickt über die Betonmauer hinaus auf den bewaldeten Hügel dahinter. «Ich bin froh, dass ich ein bisschen in die Natur schauen kann», sagt er. Und manchmal kommt die Natur sogar zu ihm. Eine Wespe schwirrt ab und zu durch die Gitterstäbe hindurch in seine Zelle, dreht ein paar Runden und verabschiedet sich dann wieder nach draussen, in die Freiheit. Hochstrasser beneidet sie nicht.