Ansturm auf Pflegeberufe: Diese Lehrstellen sind trotz ‒ oder gerade wegen ‒ Corona besonders gefragt im Aargau

Zu den Zahlen

Sämtliche in diesem Artikel erwähnten Zahlen stammen aus dem Lehrstellennachweis Lena des Kantons. Etwa die Hälfte sämtlicher Lehrstellen sind dort ausgeschrieben. Die Zahlen sind also nicht komplett. Ausserdem sind die Betriebe selbst dafür verantwortlich, besetzte Lehrstellen zu melden und ihre Inserate anzupassen. Dieser Umstand relativiert die Zahlen bis zu einem gewissen Grad zusätzlich.

Die Menschen gingen auf ihre Balkone, um fürs Gesundheitspersonal zu klatschen. Die Kritik folgte flugs darauf: Applaus reiche nicht, jetzt sei es Zeit, insbesondere die Pflegeberufe attraktiver zu gestalten, um so gegen den Personalmangel anzukämpfen. Das war im Frühling 2020.

Nun sind die Betriebe wieder einmal dabei, ihre Lehrstellen vom kommenden Sommer zu besetzen. Der Fachmann und die Fachfrau Gesundheit scheinen dabei besonders gefragt zu sein. Gemäss dem kantonalen Lehrstellennachweis Lena wurden schon fast 280 Lehrverträge in diesem Beruf unterzeichnet. Fast doppelt so viele wie zum selben Zeitpunkt vergangenes Jahr.

Damit sind nun zwar auch weniger Lehrstellen noch offen. Insgesamt wird es aber einige Pflegelehren mehr geben als noch im Vorjahr: 320 statt 230.

Hat die Pandemie Werbung für den Pflegeberuf gemacht? Roberto Morandi relativiert. Er ist Abteilungsleiter bei den Beratungsdiensten für Ausbildung und Beruf ask!. Die Anzahl Lehrstellen in den Gesundheitsberufen sei seit Jahren steigend. Denn auch das Angebot im Gesundheitswesen ist am Wachsen: «Vielleicht sind die zunehmenden Lehrstellen präventiv gedacht, um den Nachwuchs möglichst früh an sich zu binden.»

Ausserdem: Im Frühling 2020 waren die Spitäler in einer Ausnahmesituation – stärker noch als jetzt. Roberto Morandi sagt:

«Die Branche musste Abstriche machen und ihr Tagesgeschäft retten.»

Vielleicht sei deswegen etwas weniger in neue Lernende investiert worden – und dafür jetzt umso mehr.

Auch das Kantonsspital Baden (KSB) betont: Die Pflegelehren seien schon lange beliebt, nicht erst seit Corona. Zwei Mal pro Jahr bietet das KSB je 45 Schnupperlehren an. Diese seien in der Regel innert einer Woche ausgebucht, schreibt Bildungskoordinatorin Monika Wieland. Und auf die 36 Lehrstellen, die das KSB anbietet, kämen jährlich um die 300 Bewerbungen. «Dieses grosse Interesse am Berufsbild Pflege ist sicherlich erfreulich», sagt Wieland.

Woher kommt das grosse Interesse? Wieland sagt:

«Viele Jugendliche von heute suchen nach Berufen und Tätigkeiten, die sie mit Sinn erfüllen.»

Ein Job im Spital gehöre in diese Kategorie. Identisch ist die Situation im Kantonsspital Aarau. Dort bewerben sich Jahr für Jahr um die 200 Personen. Lehrstellen hat das KSA 30. Mit ein Grund für den starken Anstieg dieses Jahr dürfte nun aber auch Corona sein, vermutet Pressesprecherin Isabelle Wenzinger. Die regelmässige Berichterstattung habe zu einem positiveren Bild der Pflegeberufe beigetragen: «Viele junge Leute erhielten Einblick in den interessanten und notwendigen Alltag im Spitalbetrieb.»

Doch nicht nur die Spitäler: Auch andere Branchen brauchen sich um ihren Nachwuchs keine Sorgen zu machen. So werden etwa im Verkauf oder in der Logistik insgesamt mehr Lehrstellen angeboten als im Vorjahr. Kein Zufall, wie Morandi von ask! findet: «Die Pandemie hat das Onlinegeschäft angekurbelt.» In diesen Branchen sind allerdings noch mehr als die Hälfte der Lehrstellen unbesetzt, wie bereits im Vorjahr.

Und auch die KV-Lehrstellen sind, wie jedes Jahr, sehr beliebt. Fast 550 Lehrverträge wurden dort bereits unterzeichnet. Zum selben Zeitpunkt vergangenes Jahr waren es 350. Und hier sind fast keine Lehrstellen mehr offen.

Auch das überrascht Morandi nicht. Seit Jahren findet eine Umlagerung statt: Immer weniger Lehrstellen im produzierenden Gewerbe, immer mehr Dienstleister. Das KV ist die Grundausbildung schlechthin – und in Krisenzeiten gefragter denn je. Morandi sagt: «Gerade auch viele Eltern sind der Auffassung: Mach das KV. Das ist ein super Grundberuf, da kannst du dich weiterbilden.»

Als Berufsberater würde er da aber jedes Mal entgegenhalten: Auch auf technischen oder handwerklichen Berufen kann man sich weiterbilden. Er und sein Team seien da gefordert. Morandi:

«Es ist unsere Aufgabe, verschiedene Wege aufzuzeigen. Auch als Automatiker oder Polymech kann man Karriere machen. Nicht nur übers KV.»

KV, Logistik, Verkauf, Pflege. Von diesen Lehrstellen gibt es mehr als im Vorjahr – und sie sind mehrheitlich auch sehr beliebt. Andere Branchen hingegen tun sich deutlich schwerer damit, Nachwuchs zu finden.

Etwa die Gastronomie. Die Lena-Zahlen an sich sind zwar nicht alarmierend. Insgesamt sind ähnlich viele Lehrstellen ausgeschrieben wie noch im Vorjahr. Und es sind sogar schon mehr davon vergeben als zum selben Zeitpunkt 2020.

Aber: So ähnlich war die Situation schon Anfang Jahr. Diese Lehrstellen wurden mehrheitlich im vergangenen Herbst vergeben – als die Restaurants noch geöffnet waren. Seither hat sich fast nichts mehr getan.

Das bereitet Bruno Lustenberger, Präsident von Gastro Aargau, Sorgen. Berufsmessen sind abgesagt, Schnupperlehren sind unmöglich. Er sagt:

«Im Moment stellt niemand einen Lehrling ein.»

Zudem wissen die Wirte nicht, wie es weitergeht. Jemand, der nicht weiss, ob es sein Restaurant im Sommer noch geben wird und ob er öffnen darf, stellt jetzt keinen Lehrling ein.

Dabei wären sie eigentlich bereit, sagt Lustenberger. «Könnten wir auftun, könnten wir sofort Schnupperwochen durchführen.» Doch so lange die Restaurants geschlossen sind, ist das unmöglich. Lustenberger:

«Die Situation ist verheerend.»

Das mache die Situation für die Wirte auch nicht einfacher. Schwankungen gebe es zwar immer. In einem Jahr etwas mehr Lernende, in einem anderen etwas weniger. Doch wovor Lustenberger jetzt Angst hat: Dass ein Strukturwandel stattfindet. Und ein Wandel in der Gesellschaft. Dass Eltern ihren Kindern sagen: «Lerne nicht Koch. Du siehst ja: Bei einer Krise bist du sofort weg.»

Nicht nur in der Gastronomie, auch in den Kitas ist die Situation aussergewöhnlich. In den vergangenen Jahren wurden praktisch alle Kita-Lehrstellen andernorts ausgeschrieben, nicht auf dem kantonalen Lehrstellennachweis.

Heuer fanden sich dort aber fast 50 Lehrstellen. Es sei eine Unsicherheit aufgrund der aktuellen Lage spürbar, schreibt Matthias Kunz, Leiter des Sektion Betriebliche Bildung beim Kanton. Zwar sind die meisten dieser Lehrstellen mittlerweile vergeben – aber noch nicht alle.

Trotz Unterschieden je nach Branche: Alles in allem ist die Lehrstellensituation praktisch identisch mit derjenigen vor einem Jahr – trotz einem Jahr Pandemie. 3705 Lehrverträge sind abgeschlossen, 3817 waren es im März 2020. und 1352 Lehrstellen sind noch offen, 1357 waren es vor einem Jahr.

Wie kommt es, dass geschlossene Betriebe, Kurzarbeit und abgesagte Berufsmessen keinen Einfluss auf die Lehrstellensituation haben? Matthias Kunz:

«Es zeigte sich die letzten Monate eindrücklich, dass die Berufsbildung und damit verbunden der Lehrstellenmarkt sehr krisenresistent sind.»

Bund und Kantone hätten zwar mit Sonderefforts dazu beigetragen, dass es zu keiner Lehrstellenkrise komme. Aber die Hauptarbeit hätten die Ausbildungsbetriebe geleistet. «Sie haben nicht locker gelassen und trotz erschwerter Bedingungen Lehrverträge mit Jugendlichen abgeschlossen.»

So ist Kunz denn auch optimistisch, dass im Sommer ähnlich viele Lehrverträge wie vergangenes Jahr abgeschlossen sein werden.

Und auch Roberto Morandi von den ask!-Beratungsdiensten ist zuversichtlich. In einem Jahr Pandemie hätten die Betriebe auch Zeit gehabt, sich anzupassen, ist er überzeugt. Aber auch die Beratungsdienste, Schulen und Eltern waren mittlerweile vorbereitet und hätten die Schulabgängerinnen zusätzlich vorwarnen können: Passt auf und bemüht euch früh genug um eine Lehrstelle. Das habe einen positiven Einfluss gehabt.

Der Schuh drückt bei Morandi und seinem Team an einem anderen Ort: Die notwendigen Beratungen haben zwar nicht zugenommen, haben sich aber inhaltlich verändert. Morandi:

«Wir mussten den Jugendlichen in der Krise öfters Mut machen und sie davor schützen, aufzugeben.»

Wenn etwa keine passende Lehrstelle ausgeschrieben ist, oder aber eine Absage kam. Öfters sei gesagt worden: Es habe ja doch keinen Wert, noch weiterzusuchen. Und auch bei Eltern stellte Morandi öfters ein Ohnmachtsgefühl fest.

«Hier sind wir gefordert und müssen Lösungen aufzeigen», sagt Morandi. Und etwa verwandte Berufe aufzeigen. Trotzdem: Auch Morandi wäre froh, wenn möglichst schnell wieder Berufsmessen und Schnupperlehren durchgeführt werden könnten. Wie in normalen Zeiten. «Wir haben 250 verschiedene Berufe. Die können die Jugendlichen nicht im Buch kennen lernen.» Sie müssten rausgehen können, in die Betriebe.