Betrug, Steuerhinterziehung: Aargauer Skandalarzt Shah sass im Gefängnis – Kanton wusste nichts

Das Praxisschild von Doktor Shah hängt noch immer beim Eingang der Liegenschaft am Achenbergweg 5 in Klingnau. Der Facharzt für Innere Medizin halte sich täglich in der Praxis auf, sagen Nachbarn gegenüber dieser Zeitung. An diesem Nachmittag aber ist die Tür verschlossen – der Doktor hat seine Praxis offenbar vor 17 Uhr verlassen – dann endete früher jeweils seine Sprechstunde.

Patienten darf der bald 84-jährige deutsche Staatsbürger hier, ja im ganzen Aargau definitiv keine mehr behandeln. Das hat das Bundesgericht entschieden. Das elfseitige Urteil wurde am Dienstag öffentlich. Es ist die Bestätigung eines Zwischenentscheids vom Dezember 2018. Damals entzog das Bundesgericht Shahs Beschwerde gegen den Entzug der Berufsausübungsbewilligung die aufschiebende Wirkung. Regierungsrat und Verwaltungsgericht hatten als Vorinstanzen noch darauf verzichtet.

Frist von 60 Tagen

«Er muss seine Praxis in Klingnau innert 60 Tagen auflösen und ist in der Pflicht, seine Patientinnen und Patienten zu informieren, wie sie ihre Krankengeschichten beziehen können», teilt das Departement Gesundheit und Soziales (DGS) mit. Der Mediziner muss zudem die 3000 Franken Gerichtskosten zahlen. Den Entzug der Berufsausübungsbewilligung hatte das DGS im November 2017 wegen fehlender Vertrauenswürdigkeit verfügt. Auslöser dafür war ein Urteil des Bezirksgerichts Zurzach vom März 2016. Dieses verurteilte Shah wegen mehrfacher, zum Teil qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz. Der Arzt hatte einem schwerstabhängigen Junkie Drogen verkauft.

Nachgewiesen werden konnten ihm der Verkauf von 4500 Tabletten des Betäubungsmittels Dormicum sowie mehrere Packungen Rohypnol. Der Arzt hatte zudem einem zweiten Drogensüchtigen, der vor dem Prozess verstarb, eine ungeklärte Menge an Tabletten verkauft. Bei einer Hausdurchsuchung in der Praxis beschlagnahmten Ermittler 2520 Tabletten Dormicum. Das Gericht ging von rund 8000 verkauften Tabletten aus – und davon, dass Shah die Betäubungsmittel «aus rein egoistischen Gründen und aus Gier» verkaufte, um seine Rente von 2300 Euro aufzubessern. Bereits im September 2014 hatte der Kanton den Arzt mit 3000 Franken gebüsst, weil er Medikamente illegal verkauft hatte und seiner Fortbildungspflicht nicht nachgekommen war.

Lange Liste von Straftaten

Hareshchandra Shah hatte seine Praxis in Klingnau im August 2008 eröffnet. Recherchen zeigen nun aber: der Arzt ist in Deutschland mehrfach vorbestraft – und verbüsste dort schon eine Haftstrafe. Ein Urteil des Landgerichts Hagen aus dem Jahr 2009, das dieser Zeitung vorliegt, weist folgende Verurteilungen auf:

• Am 21. März 1997 verurteilte das Amtsgericht Dortmund Shah wegen Steuerhinterziehung in vier Fällen zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 60 Deutsche Mark.

• Am 1. Februar 1999 verurteilte das Landgericht Dortmund ihn wegen Steuerhinterziehung in neun Fällen, inklusive der vier Fälle von 1997, zu einer Freiheitsstrafe von insgesamt einem Jahr und sechs Monaten. Dasselbe Gericht verurteilte den Arzt zudem wegen vier weiterer Fälle von Steuerhinterziehung zu zwei Jahren und drei Monaten. Er erhielt also in der Summe drei Jahre und neun Monate. Er verbüsste die Strafe teilweise und kam auf Bewährung frei. Mindestens die Hälfte dürfte er abgesessen haben.

• Am 23. August 2001 verurteilte ihn das Amtsgericht Dortmund wegen Betruges in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten auf Bewährung.

• Am 3. November 2009 verurteilte ihn das Landgericht Hagen als zweite Instanz wegen Vortäuschen einer Straftat und versuchtem Betrug zu einer Haftstrafe von einem Jahr auf Bewährung. Die erste Instanz, das Amtsgericht Hagen, hatte ihn am 8. Oktober 2007 noch zu 2 Jahren ohne Bewährung verurteilt.

Einbruch vorgetäuscht

Shah hatte einen Einbruch in seine Praxis in der deutschen Stadt Schwerte im Januar 2005 vorgetäuscht und Rechnungen gefälscht. Der Versicherung meldete er, dass medizinischen Gerätschaften – darunter ein Basis-Ultraschallgerät, ein Ergometer oder ein Oszillogramm – gestohlen wurden, ebenso zwei Lithografien von Miro, wie die «Ruhr Nachrichten» schrieben. Der Schaden belaufe sich auf 35’000 Euro. Das Amtsgericht Hagen erkannte zwei Rechnungen aus dem Jahr 1991, die den Kauf der Praxisgeräte belegen sollten, als Fälschungen. Die Adresse des Medizintechnik-Herstellers enthielt fünfstellige Postleitzahlen – obwohl diese erst 1993 eingeführt wurden. Ein Mitarbeiter der Versicherung fuhr hin – und fand einen Bauernhof vor.

Auffälligerweise hatten Shah und seine Frau von 2001 bis 2004 bereits drei weitere Einbrüche in ihr Wohnhaus gemeldet. Den Schaden gaben sie das erste Mal mit 50’000 Mark, dann jeweils mit 40’000 Euro an. Die Täter wurden in sämtlichen Fällen nicht gefasst. Finanziell hatte das Ehepaar schon bessere Tage erlebt. Die Rente wurde ihm bis auf den Mindestbetrag gepfändet.

Doch wie war es möglich, dass das Aargauer Gesundheitsdepartement im Jahr 2008, als es Shah die Bewilligung als Arzt erteilte, nichts von diesen Strafen wusste? In Deutschland erfasst das Bundeszentralregister die Straftaten. Es stellt für Personen sogenannte Führungszeugnisse aus, auf denen die Urteile ausgewiesen werden, ähnlich Strafregisterauszügen in der Schweiz. Ein solches musste Shah dem DGS vorlegen. «Das Führungszeugnis war in Ordnung, wir haben uns darauf abgestützt», sagt Regierungsrätin Franziska Roth.

Möglich war dies, weil eine fünfjährige Frist abgelaufen war. Dem Kanton lag auch eine Bescheinigung der Gesundheitsbehörde Westfalen-Lippe vor. «Daraus ist zu entnehmen, dass Herr Shah im Zeitpunkt der Gesuchstellung keine kassenärztliche Tätigkeit mehr in Deutschland hatte», sagt Roth. Laut der Behörde sei eine aktuelle Unbedenklichkeitsbestätigung damit nicht möglich. Auf die Einforderung von weiteren Bestätigungen verzichtete das DGS. «Das Führungszeugnis gab keinen Anlass dazu», sagt Roth.

Doktor Shah kam in den folgenden Jahren zugute, dass die Aargauer Behörden kein aktuelles Führungszeugnis von ihm einforderten. Weder nach dem Urteil des Bezirksgerichts Zurzach noch bevor es darauf verzichtete, seiner Beschwerde gegen den Entzug der Bewilligung die aufschiebende Wirkung zu entziehen.

Shah droht die Wegweisung

Eine Passage auf der letzten Seite des Bundesgerichtsurteils lässt aufhorchen: Shah argumentierte in der Beschwerde mit «aufenthaltsbeendenden Massnahmen». Die Nichtverlängerung respektive der Widerruf seiner derzeitigen Aufenthaltsbewilligung liege nach dem Urteil des Bezirksgerichts Zurzach nahe, wie diese Zeitung im Dezember 2017 berichtete. Das zuständige kantonale Amt für Migration und Integration (Mika) machte damals aus Persönlichkeitsschutzgründen keine näheren Angaben dazu.

Juristin Doris Richner bestätigte aber, dass das Amt «bei allen längerfristigen Freiheitsstrafen eine Wegweisung aus der Schweiz prüft». Mit «längerfristig» sind Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr gemeint, auch bedingte. Ob ein Verfahren eröffnet wird, hänge vom Einzelfall ab. Das Migrationsamt prüft jeweils, ob eine Wegweisung verhältnismässig ist, und wägt das private Interesse am Verbleib gegen das öffentliche Interesse einer Wegweisung ab. Offenbar gewichtet das Amt im Fall Shah das öffentliche Interesse höher.