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Im Zweifel für den Angeklagten: Physiotherapeut vom Vorwurf der Schändung freigesprochen

Die Privatklägerin war knapp 20 Jahre alt. Ihr Physiotherapeut 30 Jahre älter. Sie hat ihn anzeigt, weil er sie während einer Behandlung im Intimbereich und an der Brust berührt haben soll. Während des Übergriffs lag sie seitlich auf dem Schragen, er stand hinter ihr. Zudem soll er seinen Penis entblösst haben, ihre Hand an sein Glied geführt und diese hoch und runter bewegt haben.

In dieser Position auf dem Schragen sei die junge Frau wehrlos gewesen, hält die Staatsanwaltschaft in der Anklage fest. Sie habe einen überraschenden sexuellen Übergriff von hinten weder antizipieren noch sich dagegen wehren können. Die Anklage lautete deshalb auf Schändung. Der Staatsanwalt verlangte vor dem Bezirksgericht Aarau eine teilbedingte Freiheitsstrafe von drei Jahren, davon ein Jahr unbedingt. Ausserdem ein lebenslängliches Tätigkeitsverbot als Physiotherapeut.

Der Beschuldigte bestreitet den Vorfall. Die Gerichtspräsidentin wollte von ihm wissen, warum seine Patientin ihn denn zu Unrecht belasten sollte. Er antwortete:

«Das frage ich mich seit zwei Jahren. Ich weiss es nicht. Ich weiss auch nicht, was sie davon hat.»

Eine klassische «Aussage gegen Aussage»-Situation.

Für die Staatsanwaltschaft sind die Aussagen der jungen Frau glaubwürdig. Sie habe von Anfang an detailliert ihre eigenen Handlungen und jene des Beschuldigten beschrieben. Sie habe beispielsweise erwähnt, dass sie den Reissverschluss gespürt habe, während er mit ihrer Hand seinen Penis berührte. Es gebe zudem keine Hinweise, dass sie ihn fälschlicherweise beschuldige.

Der Beschuldigte verlangte einen Freispruch

Auch das Aussageverhalten des Beschuldigten sei konsistent, hielt der Staatsanwalt fest. Er sei ebenfalls glaubwürdig. Allerdings sei das nicht verwunderlich, weil er einfach den Ablauf einer normalen Behandlung beschreiben könne.

Der Verteidiger des Beschuldigten verlangte vor Gericht einen Freispruch. In seinem Plädoyer wies er mehrmals darauf hin, dass sich der Sachverhalt, so wie ihn das Opfer beschrieben hat, gar nicht habe abspielen können. Sein Mandant habe sie gar nicht mit der rechten Hand im Intimbereich und der linken an der Brust anfassen können.

Ausserdem habe die Privatklägerin in ihren Aussagen sämtliche Stereotype bedient, indem sie beispielsweise sagte, der Übergriff habe sie in einen Schockzustand versetzt und sie habe Mühe gehabt zu atmen.

Zu viele Zweifel für einen Schuldspruch

Das Gericht hat den Physiotherapeuten vom Vorwurf der Schändung freigesprochen. Nicht, weil die Richterinnen und Richter dem Opfer nicht glauben. Sowohl ihre als auch seine Aussagen seien glaubhaft. Wenn ein Gericht in einer «Aussage gegen Aussage»-Situation aber nicht zweifellos sagen kann, dass sich ein Sachverhalt wie in der Anklage beschrieben abgespielt hat, muss ein Freispruch nach dem Grundsatz «in dubio pro reo» – im Zweifel für den Angeklagten – erfolgen.

Das Urteil des Bezirksgerichts Aarau ist noch nicht rechtskräftig. Es kann ans Obergericht weitergezogen werden.