
Bildung und Aufklärung als Waffe gegen die Mädchenbeschneidung
Hussein Ahmed Abdi ist 36 Jahre alt und stammt aus Somalia. Beim ersten Treffen trägt er ein rosarotes T-Shirt und Jeans. Er steigt aus dem Auto und joggt zur Haustür, er ist 15 Minuten zu spät. «Ich habe meinen Sohn von der Schule abgeholt», sagt er und tippt mit dem Finger auf eines der vielen Klingelschilder, die im Hauseingang neben den Briefkästen hängen. «Warum haben Sie nicht geklingelt? Hier wohnen wir.»
«Wir», das sind er, seine Frau Zeynab und seine drei Kinder. Sie leben in einem Häuserblock in Münchenstein. Zeynab lebt seit zehn Jahren in der Schweiz, Hussein seit sechs Jahren. Hussein ist selten daheim. Er arbeitet drei Tage die Woche im Zoo in Basel. Im Zolli, sagt er, und klingt wie ein richtiger Basler. Wenn er nicht in der Küche des Zoorestaurants arbeitet, dann ist er trotzdem häufig von früh morgens bis spät abends unterwegs und trifft Menschen aus der somalischen Community in Basel und den umliegenden Kantonen. Seine Mission: Er will die Menschen über die Folgen der Mädchenbeschneidung aufklären.
«Als unser erster Sohn geboren wurde, hatte meine Frau grosse gesundheitliche Probleme», erzählt Hussein, nachdem er auf dem blauen Sofa in seinem Wohnzimmer Platz genommen hat. Mehr ins Detail gehen will er nicht, aber: «Zu dem Zeitpunkt habe ich mir geschworen, dass ich meine Tochter niemals beschneiden lassen will.»
Er und seine Frau fingen an, Leute aus ihrer Community zu sich nach Hause einzuladen und mit ihnen über Beschneidung zu sprechen. In Somalia sind 98 Prozent der Frauen beschnitten. Mit der Zeit bildete sich ein harter Kern von fünf Personen, die sich gegen die Beschneidung von somalischen Mädchen engagieren. Sie organisieren Feste, bei denen gegessen und gefeiert wird. «Dann kommen die Leute gerne vorbei», so Hussein. «Und wenn sie da sind, dann sprechen wir über die Beschneidung.» Nicht immer kommt sein Team gut an. «Uns wurde schon vorgeworfen, dass wir Unruhe stiften wollen.» Einmal habe eine Familie sogar die Polizei gerufen, als Hussein und seine Mitstreiter vorbeikamen.
Für seine Arbeit trifft er nicht nur Eltern, sondern kümmert sich auch um die Kinder. Sein Traum wäre es, zweimal pro Woche einen Treffpunkt für somalische Kinder zu organisieren. «Kinder müssen wissen, wie gefährlich die Beschneidung ist. Wenn sie in ihrer Familie hören dass eine Beschneidung geplant ist, dann können sie sich an uns wenden.»
Die Arbeit von Hussein und seiner Frau sei Gold wert. Das sagt Monica Somacal bei einem Treffen in ihrem Büro in Liestal. Sie lernte Hussein über die Integrationsverantwortliche der Gemeinde Münchenstein kennen. Somacal ist Sexual- und Paartherapeutin und arbeitet für die Beratungsgesellschaft für Schwangerschafts- und Beziehungsfragen des Kantons Baselland. «Ich brauche in erster Linie Schlüsselpersonen, so wie Hussein. Ohne sie kann ich nicht arbeiten», sagt sie zu Beginn des Gesprächs.
Pilotprojekte in AG und BL
Im Kanton Baselland befindet sich eine von zwei regionalen Beratungsstellen in der Deutschschweiz, wo das Personal gezielt Gespräche über die Mädchenbeschneidung führt und entsprechend ausgebildet ist. Eine weitere Stelle gibt es in Aarau. Hinter diesen regionalen Anlaufstellen steht das Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz. Das Netzwerk ist auf verschiedenen Ebenen aktiv: Es betreibt eine Website, bildet Fachpersonen aus verschiedenen Bereichen wie dem Gesundheits- oder dem Asylwesen aus und betreibt Beratungsstellen. Zu den nationalen Stellen in Bern und Luzern sind in den letzten zwei Jahren – als Pilotversuch – die regionalen Stellen in Liestal und Aarau gekommen. Sie sollen ein niederschwelliges Angebot sein, wo sich Migranten über die Mädchenbeschneidung informieren können.
Um das Angebot bekannt zu machen, ist es wichtig, mit den verschiedenen Migrantengruppen in Kontakt zu kommen, in denen Mädchenbeschneidung traditionell vorkommt. Monica Somacal von der regionalen Anlaufstelle Baselland besucht deshalb regelmässig Anlässe für Migranten und Migrantinnen. Sie informiert über die Regeln in der Schweiz; erklärt, dass die Beschneidung hierzulande verboten ist und dass sich auch strafbar macht, wer ein Kind im Ausland beschneiden lässt.
Aufklärung statt Strafe
Mund-zu-Mund-Propaganda ist für Somacals Arbeit wichtig. So wird unter den Migranten bekannt, dass es eine Fachstelle gibt, wo sie sich informieren können. Es kommt auch vor, dass sich Personen bei Somacal melden und ihr erzählen, dass sich jemand in ihrem Umfeld danach erkundigt hat, ob und wie die Mädchenbeschneidung in der Schweiz möglich ist. «Dann lasse ich mir die Kontaktdaten geben und lade diese Personen zu einem Gespräch ein», erklärt Somacal.
Für ihre Arbeit sind Mediatoren und Mediatorinnen deshalb wichtig. Menschen wie Hussein Ahmed Abdi, die sich in ihrer eigenen Community gegen Mädchenbeschneidung einsetzen. Sie zu finden, ist aber schwer: «Die Arbeit der Mediatoren ist zeitraubend. Wenn sie nebenher noch arbeiten, kann die Belastung für sie gross werden.»
Hussein bestätigt das: «Manchmal sehe ich meine Kinder kaum.» Trotzdem will er weiterkämpfen: «Wenn die Somalier hier in der Schweiz dagegen sind, dann können wir auch unsere Angehörigen in Somalia beeinflussen.»
Mädchenbeschneidung – Ein Überblick
Weltweit sind laut Zahlen der UNO über 200 Millionen Mädchen und Frauen beschnitten. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
1 Was ist weibliche Genitalbeschneidung oder Mädchenbeschneidung?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert alle Praktiken, bei denen die äusseren weiblichen Geschlechtsorgane ohne medizinische Notwendigkeit verletzt oder entfernt werden, als Mädchenbeschneidung. Sie wird nicht überall gleich praktiziert, sondern unterscheidet sich je nach Region oder Gemeinschaft. Zum Beispiel werden Mädchen in somalischen Städten anders beschnitten als Mädchen, die auf dem Land leben. Auch der Zeitpunkt ist unterschiedlich. Je nach Region und Gemeinschaft sind die Mädchen bei ihrer Beschneidung zwischen 0 und 15 Jahre alt.
2 Welche Formen der Beschneidung gibt es?
Die Weltgesundheitsorganisation unterscheidet vier Typen der Beschneidung:
Typ I: Die Klitoris und/oder die Klitorisvorhaut wird abgeschnitten.
Typ II: Die Klitoris und die kleinen Schamlippen werden teilweise oder ganz abgeschnitten.
Typ III: Die Klitoris, die kleinen und die grossen Schamlippen werden teilweise oder ganz abgeschnitten.
3 Welche Folgen hat die Beschneidung für Mädchen und Frauen?
Eine Beschneidung kann sich nachhaltig auf das Leben von Mädchen und Frauen auswirken. Nach dem Eingriff ist das Risiko gross, dass sich die Wunde entzündet. Vor allem dann, wenn bei der Beschneidung die Hygiene vernachlässigt wurde. Später kann es sein, dass Frauen beim Geschlechtsverkehr Schmerzen haben und dass Urin und Menstruationsblut nicht abfliessen können. Das kann zu chronischen Infektionen führen. Auch Geburten sind für Frauen kompliziert und schmerzhaft, weil das Narbengewebe aufgerissen wird.
4 Warum werden Mädchen überhaupt beschnitten?
Weibliche Genitalbeschneidung ist an Traditionen und nicht an Religionen gebunden. Sie wird in christlichen, muslimischen und anderen Gesellschaften durchgeführt. Es gibt in keiner Schrift einer Weltreligion die Aufforderung dazu. Neben traditionellen hat die Beschneidung auch ästhetische oder soziale Gründe: Mädchen mit beschnittenen Genitalien gelten als schön und gehören in der Gemeinschaft dazu. Die Beschneidung kann auch ein Ritual sein, um vom Kind zur Frau zu werden. Auch Sex spielt eine Rolle: Es gibt die Vorstellung, dass beschnittene Mädchen vor der Ehe keine sexuellen Beziehungen haben und ihrem Ehemann eher treu sind.
5 In welchen Ländern werden Mädchen beschnitten?
Die Mädchenbeschneidung hat ihren Ursprung in Ägypten. Die Praxis hat sich seither in den westlichen, östlichen und nordöstlichen Regionen in Afrika etabliert. In Somalia, Eritrea, Sudan, Ägypten, Guinea, Sierra Leone, Mali und Djibouti sind über 80 Prozent der Frauen beschnitten. In Mauretanien, dem Tschad und Äthiopien sind es mehr als die Hälfte. Auch im Irak und im Jemen, in Afghanistan, Indonesien und in kurdischen Gebieten werden Mädchen teilweise beschnitten. In einigen Ländern, zum Beispiel in Eritrea, ist die Beschneidung offiziell verboten. In der Schweiz besteht theoretisch eine Meldepflicht für Ärzte, wenn sie sehen, dass ein Mädchen beschnitten ist. Eine Beschneidung wird als schwere Körperverletzung geahndet.