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Meine pädagogische Apokalypse

Kriegspädagogik und Bildungsbürokratie. Welch martialischer Ausdruck und was für ein Wortmonster, das einer schimmligen Amtsstube entsprungen sein muss. Aber genauso muss ich einen Schultag beschreiben, an dem ich während neun Lektionen im Kriegsmodus unterrichtet habe. Es war aber keine epische Schlacht Lehrer gegen Schüler, sondern ein Gefecht mit mir selbst und meinen mathematischen Kenntnissen.

Aber der Reihe nach: Kürzlich habe ich eine erkrankte Lehrperson vertreten. Keine Angst, es handelte sich nicht um Covid-19. Nein, stellen Sie sich vor: Es gibt tatsächlich noch so etwas wie eine banale Erkältung. Doch auch ohne Coronavirus erleben wir den ganz normalen personalpolitischen Wahnsinn, wenn eine Lehrperson kurzfristig ausfällt.

Lehrerinnen oder Lehrer, die nicht grad ihren Mami- oder Papitag haben, übernehmen die Lektionen – sofern sie natürlich gleichzeitig nicht selbst unterrichten. Natürlich packt bei uns jede und jeder an, aber es gibt inzwischen mehr Teilzeitlehrerinnen als vollangestellte Lehrer. Die Genderstern-Dozent*innen verzeihen mir, aber hier ist sprachpolizeilich alles korrekt. Die männliche beziehweise weibliche Form ist nämlich Tatsache und erstere müsste eigentlich unter Artenschutz stehen.

Doch zurück zur eigentlichen Geschichte: Ich unterrichte an einem Freitag normalerweise sechs Lektionen, dazwischen habe ich Freistunden. So konnte ich zusätzlich drei Lektionen übernehmen, zwei davon Geometrie in einer Abschlussklasse, was wohl (wie ich später eingestehen musste) etwas unüberlegt war, aber dazu später.

Vorerst rannte ich an diesem Vormittag zwischen verschiedenen Zimmern hin und her und hatte bereits um 10 Uhr mein Runner’s High, das mich wie in einer Trance durch den weiteren Tag manövrierte. Das übliche Geschrei der Jugendlichen in den Gängen hörte sich ähnlich tiefenentspannt an wie die neuen Duftkerzen-Songs von Adele, während lautes Gekreische junger Mädchen zuweilen meinen Kosmos voll Glückseligkeiten durchdrangen. Aber wer mit genug Endorphinen vollgepumpt ist, der verwechselt in der Vorweihnachtszeit auch mal Lily Allens «Fuck you» mit «Last Christmas» und sagt sich: Beschissener kann mein Tag nicht mehr werden.

Meine pädagogische Apokalypse erlebte ich jedoch nach der einstündigen Mittagspause. Geometrie war angesagt, und zwar zentrische Streckungen. Da dies für mich als Sprachlehrer einer biblischen Katastrophe gleichkam, musste ich mich zuerst in die Welt von Punktspiegelungen einlesen – leider (wie sich später herausstellte) mit mässigem Erfolg.

Ich war froh, dass die Schüler sehr konzentriert gearbeitet haben. Vielleicht hatten sie aber auch nur Mitleid mit meinen mathematischen Unzulänglichkeiten.

Klar, ich habe einen Mittelschulabschluss (aber mit Latein), doch dieser liegt fast 30 Jahre zurück. Dass meine Mathematikkenntnisse aus dem 20. Jahrhundert stammen mussten, bemerkte ich, als ich einen Schüler um eine Eckère bat. Ich erntete nur einen fragenden Blick und erst als ich von Geodreieck gesprochen hatte, hatten wir uns sprachlich und auch mathematisch verstanden.

Aber welche unrühmliche Rolle hat das Bürokratiemonster in dieser Geschichte gespielt? Die Lektionen müssen abgerechnet werden. Hierfür braucht es Abordnungen, Verfügungen, Vikariatsrapporte – das volle Bürokratenprogramm.

Nach solchen Tagen möchte man nur noch einen Baum umarmen und hoffen, dass dies der letzte beschissene Tag in diesem Jahr war.

*Patrick Hersiczky (50), aus Baden, Sekundarlehrer im Kanton ZH, freier Journalist. Äussert sich in der Kolumne privat, aber immer mit viel Selbstironie.