
«Dann ging der Krieg los» – was Eltern schwerbehinderter Kinder mit der Aargauer IV erleben
Als bei Familie Schneider (Name geändert) vor einigen Jahren das erste Kind auf die Welt kam, war alles anders als geplant. Mittlerweile ist der Junge im Teenageralter – und er kann weder sprechen noch gehen noch selbstständig sitzen. Der Jugendliche muss gefüttert werden wie ein Baby. Er braucht Rund-um-die-Uhr-Betreuung und wird nie ein selbstständiges Leben führen können.
So kam Familie Schneider früh mit der Aargauer IV-Stelle in Kontakt. Denn hat ein Kind eine Geburtsbehinderung, wird es vom Spital direkt bei der IV angemeldet. Diese sollte dann Operationen, Therapien oder Hilfsgeräte bezahlen.
Die Probleme begannen für Familie Schneider kurz nach dem zweiten Geburtstag des Kindes. Die IV fand, von nun an wäre die Krankenkasse zuständig. Diese fand, es sei immer noch die IV zuständig. Die Mutter des Kindes sagt:
«Dann ging der Krieg los. Und du als Mutter stehst dazwischen und solltest Rechnungen bezahlen.»
Bei den Rechnungen ging es nicht um Peanuts. Sondern es ging um Fragen wie: Wird der Sauerstoff für das Kind noch bezahlt? Oder die Kinderspitex? Es ging um Beträge von mehreren zehntausend Franken.
Ein Verband schafft Abhilfe
Verschiedene Verbände helfen Eltern von Kindern mit Einschränkungen in solchen Situationen. Zum Beispiel Procap, der Verband für Menschen mit Handicap. Die Dienstleistung von Procap: Sie prüft für die Eltern, die Mitglied sind, sämtliche Dokumente, Verfügungen und Einsprachen, die die IV betreffen. Und zwar von Geburt an, bis das Kind erwachsen ist. Und wenn nötig ficht Procap für die Eltern Rechtsstreitigkeiten vor Gericht aus.

Andrea Mengis (links) und Irja Zuber, Rechtsanwältinnen bei Procap Schweiz.
Über 100 Kinder mit Beeinträchtigung und deren Eltern betreut Procap im Aargau. Bei rund 30 davon ist aktuell der Rechtsdienst eingeschaltet.
Auch Familie Schneider wird auf diese Weise von Procap unterstützt. Mehrfach war der Verband für die Mutter vor Gericht, sagt Frau Schneider. Jedes Mal habe man gewonnen. Und trotz dieser Hilfe sagt sie: «Mit der IV zu tun zu haben ist manchmal wirklich schwierig.» Gerade für Menschen in Situationen wie sie: Man bekomme ein Kind, erwarte ein gesundes, dann sei es mehrfach schwerstbehindert. Man hadere mit der Situation, das Kind kämpfe im Spital ums Überleben. Und dann komme all das mit der IV dazu. Die Mutter sagt:
«Manchmal ist es schwieriger, sich mit der IV herumzuschlagen, als ein schwerstbehindertes Kind zu betreuen.»
Es sind verschiedene Punkte, die Frau Schneider kritisiert. Gleichzeitig betont sie aber: Die Situation sei auch schon schlimmer gewesen. Tendenziell habe sich die Arbeit der IV in den vergangenen Jahren gebessert. Und der Wille nach weiteren Verbesserungen sei spürbar.
Jahrelanges Warten auf einen Entscheid
Liegt ein Entscheid der IV vor, haben Eltern 30 Tage Zeit, um ihn anzufechten. Danach ist der Entscheid definitiv, egal ob er richtig oder falsch ist. Die IV selbst hat keine zeitlichen Vorgaben. Wenn Eltern ein Gesuch stellen, kann sie sich so viel Zeit dafür nehmen, wie sie braucht. Mal dauere es Wochen, bis man eine Antwort bekomme. Mal Monate. Und wenn man sich die Leistung vor Gericht erkämpfen muss, Jahre. Den Vorgang beschleunigen können Eltern nicht. Frau Schneider sagt: «Man ist hilflos ausgeliefert.»
Dabei würde das Kind ein Medikament oder eine Therapie dann brauchen, wenn der Antrag gestellt wird. Und nicht erst Monate später. Frau Schneider:
«Stellen Sie sich vor, Sie würden sich beide Beine brechen und zwei Jahre später bekommen Sie Krücken.»
In manchen Situationen hat Familie Schneider eine Therapie oder ein Medikament aus dem eigenen Sack bezahlt. In der Hoffnung, dass das Geld später von der IV zurückbezahlt wird. Das liegt aber nur für die Familien drin, die sich das leisten können. Ein weiteres Problem: Die Ungewissheit, ob man das Geld auch zurückbekommt. Schlimmstenfalls macht eine Familie Schulden, die sie nicht zurückbezahlen kann.
Aargauer IV ist für zwei Spezialistinnen schon länger ein Sorgenkind
Andrea Mengis und Irja Zuber sind Anwältinnen bei Procap, beide seit über 20 Jahren. Sie arbeiten sowohl für Klientinnen und Klienten im Aargau als auch in anderen Kantonen. Beide sagen: «Die IV Aargau ist im Vergleich mit anderen Kantonen eher ein Sorgenkind von uns. Oft dauert es länger, bis ein Entscheid vorliegt.» Und die Begründung könne häufig nicht überzeugen.

Irja Zuber, Rechtsanwältin Procap Schweiz.
Irja Zuber vertrat zum Beispiel die Eltern eines schwerstbehinderten zweijährigen Mädchens. Zwei Jahre habe es gedauert, bis ein erster Entscheid über den Antrag um Hilflosenentschädigung vorlag. In der Zwischenzeit stellte Zuber für die Eltern drei neue Anträge, weil sich die Situation wieder verändert hatte und andere Unterstützung benötigt wurde. Am Ende sei es ein riesiger Aufwand gewesen, um auf den neusten Stand zu kommen, sagt Zuber.
Dazu kommt: Wollen Eltern bei der IV anrufen, weil Fragen offen sind, erreiche man häufig die zuständige Person nicht. Das sei ein grosses Problem, sagt Mengis: «Wenn man telefonisch nicht durchkommt, verlieren viele Betroffene den Mut, sich zu wehren.»

Andrea Mengis, stellvertretende Leiterin Rechtsdienst Procap Schweiz.
Zuber und Mengis haben zumindest zum Teil Verständnis, dass die IV manchmal so lange braucht. Zum einen ist die IV ein komplexes Gebiet, das von zig Paragrafen geregelt wird. Dann müssen die Dossiers durch verschiedene Abteilungen bei der IV selbst: Sachbearbeitung, Abklärung, je nach Fall muss ein Arzt die Unterlagen prüfen. Und schliesslich stehe die IV unter einem grossen Spardruck: Mit mehr Mitarbeitenden könnte sie wohl schneller arbeiten, vermuten die Anwältinnen. Doch diese Ressourcen seien nicht vorhanden.
Sogar Frau Schneider hat Verständnis für die Situation. «Als Elternteil ist man emotional dabei. Ich musste lernen: Die IV will unserem Kind nichts Schlechtes. Sie sucht einfach den gesetzlich richtigen Weg.»
Eltern wissen nicht, was sie zu Gute haben
Ein weiterer Punkt, den sowohl Frau Schneider als auch Procap bemängeln: Eltern wüssten oft gar nicht, auf welche Leistungen sie Anspruch hätten. Anwältin Zuber:
«Wir hatten viele unbefriedigende Fälle mit Eltern, die seit Jahren Hilflosenentschädigung zu Gute hätten.»
Diese hätten sie aber nicht beantragt, weil sie nichts davon wussten. Auch Frau Schneider sagt: «Unser System funktioniert so, dass dir niemand sagt, was dir zur Verfügung steht.» Von einer Minute auf die andere habe man ein schwerbehindertes Kind. Man sei sowieso schon komplett überfordert. «Ich fände es nur fair, wenn einem dann nicht noch zusätzlich Steine in den Weg gelegt würden.» Sondern wenn man stattdessen verständliche Infos bekommen würde.
Besonders benachteiligt werden dadurch Eltern, die entweder nicht so gut integriert sind oder aber nur schlecht Deutsch können. Bei ihnen sei das Risiko besonders gross, dass sie Leistungen, auf die sie ein Recht hätten, nicht bekommen. Dem versucht Procap entgegenzuwirken, indem man aktiv Eltern informiere, etwa an Heilpädagogischen Schulen oder an Elternabenden.
Procap übernimmt Aufgaben der IV
Ausserdem hat Procap selbst einen Ratgeber verfasst. Mit praktischen Beispielen soll Eltern erklärt werden, worauf sie Anspruch haben und wie das Verfahren läuft. Damit hat Procap ein Stück weit die Aufgabe der IV übernommen. Denn eigentlich hätte die IV selbst eine Informations- und Beratungspflicht. Doch diese würde nur ungenügend wahrgenommen, sagen sowohl Mengis als auch Zuber.
Insbesondere bei Eltern mit behinderten Kindern sei das fragwürdig. Denn diese Dossiers landen nach der Geburt des Kindes sowieso bei der IV. Aufgrund der Arztberichte könnte die IV meist erkennen, ob wegen einer Behinderung Unterstützung in Frage kommt, sagt Zuber. Sie könnte die Eltern auf mögliche Leistungen also aufmerksam machen. Trotzdem sagt sie:
«Ich habe es in 20 Jahren vielleicht zwei Mal erlebt, dass die IV den Eltern von sich aus geschrieben hätte, worauf sie Anspruch haben.»
Wieso klappt das bei der IV, einer Stelle, die geschaffen wurde, um Menschen in schwierigen Situationen zu helfen, nicht? Die Frage sei bereits falsch formuliert, findet Mengis: «Ich glaube nicht, dass es das Rollenverständnis der IV ist, dass sie anderen hilft.» Stattdessen verstehe sie sich als Versicherung, die überprüfe, welche Leistungen von Gesetzes wegen ausbezahlt werden müssen. Und wo gespart werden könne. Zuber ergänzt: «Ich vermisse die Empathie von der IV, dass sie den Spielraum, den sie hat, jeweils zum Guten ausnutzt.»
Denn auch wenn die IV ans Gesetz gebunden ist: Einen gewissen Ermessensspielraum hat sie. Diesen übe sie im Vergleich mit anderen Kantonen im Aargau aber eher restriktiv aus, finden die Anwältinnen.
Nun werden Ergebnisse verlangt
Das sei am Ende auch eine Frage der Haltung. Hier sind Zuber und Mengis allerdings positiv gestimmt. Man habe in den vergangenen Jahren mehrfach von der IV signalisiert bekommen, dass sie einen Gesinnungswechsel anstrebe. So versuche die IV-Stelle, die Versicherten stärker als Kunden ins Zentrum zu stellen. Auch Procap habe ihre Anliegen einbringen können. «Wir spüren eine Gesprächsbereitschaft von Seiten der IV.»
Nur spüre man in der Praxis noch wenig von diesen angekündigten Verbesserungen. Weder würden Eltern schneller Entscheide bekommen, noch besser über Leistungen informiert werden. Auch die Erreichbarkeit der IV-Mitarbeitenden lasse noch zu wünschen übrig. Mittlerweile würde man schon Verbesserungen erwarten, so Mengis. Konkret heisst das:
«Wenn Eltern sagen, sie hatten ein offenes Gespräch mit der IV, sie fühlten sich ernst genommen und konnten ihre Anliegen einbringen, ausserdem wurden sie über die Leistungen verständlich informiert, dann wäre das bereits eine deutliche Verbesserung.»
Das sagt die SVA Aargau zur Kritik
Lange Wartezeiten
Dass die Prozesse bei der IV Aargau generell lange dauern, stimme so pauschal nicht. In gewissen Bereichen der beruflichen Wiedereingliederung zum Beispiel sei man schneller und erfolgreicher als andere Kantone. Grundsätzlich seien die Dienstleistungen der IV sehr vielseitig und es seien verschiedene Stellen an den Abklärungen beteiligt. Ausserdem betont die SVA: «Wir sind dem Untersuchungsgrundsatz unterstellt. Das heisst, wir sind verpflichtet, den Sachverhalt von uns aus korrekt und umfassend abzuklären und nicht «nur» jene Informationen zu prüfen, die unsere Kundinnen und Kunden uns einreichen.» Gleichzeitig sei der SVA bewusst, dass lange Wartezeiten für Eltern belastend seien. Darum arbeite man daran, die Prozesse zu beschleunigen und die Beratung zu intensivieren. Digitale Lösungen und die Zusammenarbeit mit Organisationen wie Procap sollen hier helfen.
Fehlende Informationen
Eine einfache und transparente Kommunikation sei der SVA ein Anliegen. Zwei interne Schulungen zu diesem Thema seien im Juni durchgeführt worden. Ausserdem biete das neue Kundenzentrum am Bahnhof Aarau den Kunden eine «umfassende, proaktive und individuelle» Beratung. «Es besteht aber auch hier auf jeden Fall noch weiteres Optimierungspotenzial.» So seien weitere Bemühungen geplant, erwähnt wird etwa ein Case-Management für IV-Versicherte.
Schlechte Erreichbarkeit
Im Frühling habe die SVA ihre Öffnungszeiten ausgeweitet. «Wir haben erkannt, dass es trotzdem in Stosszeiten vorkommt, dass wir nicht alle Anrufe beantworten können. Dies entspricht klar nicht unserem Dienstleistungsverständnis.» Lösungen seien nun in Arbeit, dabei werden auch andere Informationskanäle mitberücksichtigt, etwa die Website oder der Newsletter.
Goodwill sei spürbar, in der Praxis merke man aber noch nichts
Anders als Procap ist man bei der SVA der Auffassung, bereits Verbesserungen erreicht zu haben. «Dies bestätigen erste positive Kundenfeedbacks.» Gleichzeitig sei der SVA aber auch bewusst, dass die Anstrengungen nur mit einer zeitlichen Verzögerung wahrgenommen würden. «Es dauert einen Moment, bis sich das etablierte Gesamtbild der IV in den Köpfen der Menschen verändert.» Ziel der IV sei es, den Zugang zu den Leistungen für Versicherte zu vereinfachen. Und man möchte die Beratung zum einen durch verständliche und proaktive Informationen, zum anderen durch einfache digitale Anmeldeverfahren verbessern.