«Das Personal ist noch nicht erholt» – das Aargauer Gesundheitspersonal schlägt Alarm

Die zweite Covid-Welle hat die Schweiz schneller und heftiger getroffen als erwartet. Darunter leidet das Gesundheitspersonal, wie bereits im März, besonders. «Es ist, als würden Sie die Tour de Suisse fahren. Dann haben Sie kurz Zeit, um die Beine hängen zu lassen und dann gehen Sie mit einem grossen Restmuskelkater an die Tour de France. Und diese wird steiler sein.» So beschreibt Claudia Hofmann, Co-Präsidentin des Berufsverbandes SBK Aargau-Solothurn, die aktuelle Situation für das Gesundheitspersonal.

Personalmangel in der Pflege ist ein altes Problem

Zwischen der ersten und der zweiten Welle habe die Arbeit nie abgenommen. Es kamen mehr Patienten, die sich zuvor nicht trauten, ins Spital zu gehen: «Das Personal ist noch nicht erholt», sagt Hofmann. Die grösste Sorge unter den Mitarbeitenden im Hinblick auf die zweite Welle sei, dass das Personal ausgehe. Etwa dann, wenn Mitarbeitende selber krank würden: «Fehlt jemand auf einer Abteilung, muss jemand anderes, der vielleicht frei hätte, einspringen. Das ist ein Kreislauf, der sehr erschöpfend ist.»

Mit 45 Jahren Erfahrung in der Pflege kann Hofmann bezeugen, dass der Personalmangel ein altes Problem ist. Seit 20 Jahren würden sie bereits für mehr Personal kämpfen: «Wir bilden in der Schweiz aktuell weniger als 50 Prozent aus, von dem, was wir eigentlich an Pflegefachpersonen brauchen. Im Moment sind in der Schweiz 11000 Stellen unbesetzt.» Sollte es so weitergehen, würde es bis 2030 in der Schweiz 65000 zusätzliche Pflegefachpersonen brauchen. Gerade jetzt, wo die Schweiz begriffen hat, dass Pflegefachpersonen systemrelevant seien, sei es wichtig, die Forderungen zu stellen, so Hofmann.

Ruth Humbel nannte Protestwoche «fast zynisch»

Die Gewerkschaften, darunter Unia, Syna oder VPOD, haben diese Woche zusammen mit dem Berufsverband der Pflegefachpersonen schweizweit Protestaktionen lanciert, um auf die zum Teil prekären Arbeitsbedingungen des Gesundheitspersonals aufmerksam zu machen. Ihre Hauptforderungen: mehr Rechte am Arbeitsplatz, bessere Arbeitsbedingungen, bessere Besoldungen und vor allem mehr ausgebildetes Fachpersonal. Im Aargau werden diese Protestaktionen aufgrund der aktuellen Lage auf den sozialen Medien durchgeführt.

Gesundheitspolitikerin Ruth Humbel nannte diese Protestwoche des Gesundheitspersonals «fast zynisch». Es liege ihnen fern, zynisch zu sein, sagt Claudia Hofmann. «Aber es ist jetzt höchste Zeit, dass griffige Veränderungen eingeleitet werden.» SVP-Nationalrat Andreas Glarner äusserte sich im «Talk Täglich» ebenfalls negativ über die Protestwoche: «Wenn das Personal jetzt noch auf die Strasse geht, anstatt zu arbeiten, dann verstehe ich es gar nicht.»

Man geht gefasster in die zweite Welle

Auch Stephanie, Pflegefachfrau auf der Neonatologie im Aargau, engagiert sich in der Protestwoche des Pflegefachpersonals. Seit mehr als zehn Jahren arbeitet sie in der Branche. Der Personalmangel sei bereits vor Corona ein grosses Thema gewesen. «Als im Frühling die Menschen für uns applaudierten, war das Unverständnis unter den Kolleginnen und Kollegen sehr gross. Man fragte sich, weshalb die Menschen erst jetzt auf die systemrelevanten Berufe schauen.»

Man gehe nun gefasster in die zweite Welle. «Trotzdem ist man wieder ähnlich angespannt, wie im Frühling.» Mit der Winterzeit kommen auch mehr Kinder mit Symptomen auf den Kindernotfall. Sollte es so weit kommen, dass man diese auf der Station noch isolieren muss, steige der Aufwand beträchtlich: «Dafür würde es einen anderen Personalschlüssel brauchen. Es ist eine Challenge, die Versorgung sowie die Qualität und die Sicherheit aufrechtzuerhalten. Das ist sehr belastend.»

Pflegefachpersonen sind oft in ihrer Freizeit erreichbar

Der Pflegenotstand sei eine Realität. «Das sieht man gegen aussen nicht, denn die Qualität ist nicht schlecht. Aber die Einbussen haben diejenigen, die im System drin sind.» Sie spricht von Belastungen, die man als normal hinnimmt, obwohl sie das nicht wären. «Zum Beispiel ist man jederzeit erreichbar, um bei Bedarf einspringen zu können. Es ist wenig Luft da.» Corona habe eine Situation, die bereits zuvor nicht gut war, zusätzlich verschärft: «Es mag fast nichts mehr leiden», so Stephanie.

Man fordere nicht viel. Kleinigkeiten, die für eine ausgewogenere Work-Life-Balance sorgten. «Und die Wertschätzung kommt halt schon über den Lohn oder über Pikettentschädigungen, die höher sein könnten.» Es sei auch eine Frage nach dem Verhältnis zu dem, was man leistet: «Man kann sich keine Fehler leisten. Im Gesundheitswesen haben Fehler Folgen auf Menschenleben.»