
Der Dialekt-Graben
«Ich bin ein Schweizer, die deutsche Sprache ist mir fremd.» Was der Mediziner Albrecht von Haller schon im 17. Jahrhundert konstatiert hat, gilt in vielen Parlamentssälen der Deutschschweiz ungebrochen. Debattiert wird in der Mundart, in all den Lauten also, mit denen die Sprechmuskeln am besten vertraut sind. Das Schweizerdeutsche ist die Sprache des Informellen. Es hat keine schriftlichen Normen und kennt zahlreiche regionale Ausprägungen.
Doch dem Dialekt sind Grenzen gesetzt. Wo es offiziell wird, hat er nichts zu suchen, nicht im Schriftverkehr und schon gar nicht in amtlichen Dokumenten. Das Chaos wäre absehbar, wenn Genauigkeit erfordernde Gesetze plötzlich auf Schweizerdeutsch verfasst würden. Allein schon wegen der Frage, welche der unzähligen Mundarten denn nun bindend sein soll. Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. So gelten in den eidgenössischen Räten, wo Vertreter aller Landesteile im Saal sitzen, klare Regeln: Ein Parlamentarier muss mit einer Ermahnung rechnen, hält er ein Votum auf Schweizerdeutsch. «Schriftdeutsch», wie es im Amtsjargon heisst, ist Pflicht.
Anders in den Kantonsparlamenten – hier ist der Sprachgebrauch nicht einheitlich geregelt. Die Mundart hat eine starke Stellung, wie eine Auswertung der «Schweiz am Wochenende» zeigt. In den 21 Kantonen mit Deutsch als Amtssprache wird in einer knappen Mehrheit der Parlamente auf Schweizerdeutsch debattiert. Zwölf Kantone setzen auf Mundart, neun pflegen die Hochsprache. Manche Stände haben eine Sprachenregelung. «Verhandlungssprache ist Mundart», heisst es etwa im Solothurnischen. Andere kennen keine expliziten Vorschriften. Im Thurgau beispielsweise wird Hochdeutsch schlicht und einfach als «gelebte Praxis» bezeichnet.
Mundart als Protest
In den zweisprachigen Kantonen Bern und Freiburg steht es Parlamentariern frei, ob sie ihre Voten auf Hochdeutsch, Schweizerdeutsch oder Französisch vortragen. In Bern werden die Ratsverhandlungen simultan in beide Amtssprachen übersetzt, die deutschsprachigen Grossräte sprechen seit je vor allem Dialekt.
Einen Spezialfall stellt der Kanton Luzern dar. Die Kantonsräte sprechen sowohl Mundart als auch Hochdeutsch. Diese Lösung spiegelt ein Stück Geschichte, das in Vergessenheit geraten ist. Als Ende der 1970er-Jahre die Vorläufer der heutigen Grünen erstmals ins Kantonsparlament einzogen, fielen sie mit ihren bewusst auf Schweizerdeutsch gehaltenen Voten aus dem Rahmen. Das Hochdeutsche war für sie die Sprache der Formalisten, es verkörperte den «konservativen Mief».
Wer spricht Hochdeutsch? Und wo blüht die Mundart? Der Sprachgebrauch ist einerseits von der geografischen Lage geprägt: Die Parlamente der Grenzkantone debattieren tendenziell eher in der Hochsprache, jene der Binnenkantone im Dialekt. Andererseits spielen wirtschaftliche Faktoren eine wichtige Rolle, wie Linguisten wissen. In vernetzten Industriekantonen wie Zürich, Basel-Stadt oder Zug ist das Hochdeutsche im privaten und geschäftlichen Alltag «überdurchschnittlich stark präsent», so eine Untersuchung der Universität Freiburg.
Sprachforscher messen dem Schweizerdeutschen eine wachsende Bedeutung zu. Der Dialekt gilt zusehends als identitätsstiftend. Nicht nur junge Menschen verfassen Chat-Nachrichten oder E-Mails gerne in Mundart. Ein Forschungsteam um die Zürcher Linguistin Christa Dürscheid konnte schon 2010 in einer Studie nachweisen, das rund 75 Prozent der in der Deutschschweiz verschickten SMS auf Schweizerdeutsch geschrieben werden. Die Wissenschafterin sieht darin eine Tendenz, dass dank der privaten Kommunikation «die Mundart im grossen Stil eine Renaissance erlebt».
Protokollanten am Anschlag
Schwappt der Trend auch auf die Politik über? In den vergangenen Jahren diskutierten mehrere Kantonsparlamente über ihren Sprachgebrauch. Am hitzigsten in St. Gallen, wo die Kantonsräte ihre Verhandlungen in der Hochsprache führen. Politiker von SVP und Grünen forderten 2016, dass im Parlament auch Mundart gesprochen werden darf. Der Dialekt sei einem Volksvertreter angemessen, sagte SVP-Motionär Erwin Böhi in der Ratsdebatte. «Mundart isch ziitgmäss und anti-elitär.» Eine Mehrheit sah das anders und lehnte den Vorschlag ab. Das Parlament habe eine offizielle Funktion, was sich im Gebrauch der Amtssprache zeige. Das Hochdeutsche könne zudem schriftlich präziser wiedergegeben werden.
Tatsächlich hat die Hochsprache praktische Vorteile bei der Protokollierung. Mundart zu verschriftlichen und zu übersetzen stellt Protokollanten oft vor Probleme, wie mehrere kantonale Ratssekretäre bestätigen. Namentlich will sich keiner der Angefragten dazu äussern; die Sprachfrage sei politisch heikel. Hinter vorgehaltener Hand aber ist Kritik zu hören. Um eine Stunde Debatte zu erfassen, rechne er bei Hochdeutsch mit einem Aufwand von sechs bis sieben Stunden, erklärt der Leiter eines Parlamentsdienstes. «Bei Dialekt-Debatten sind es locker neun Stunden.»
Der Bernische Grosse Rat testete in den vergangenen Monaten eine Software mit automatischer Spracherkennung. Doch die Mundarten in all den Ausprägungen von Oberhasli bis Trubschachen erwiesen sich als grosse Hürde für das Programm. Deshalb wurden die Politiker angehalten, Hochdeutsch zu sprechen. Die meisten taten es bloss widerwillig.