
Der Kaltstart der Aargauer Kantonsärztin: «Aufgeben war in meinem Leben nie eine Option»
Samstag, 11 Uhr. Das Smartphone klingelt, kurz darauf erscheint auf dem Bildschirm das Gesicht von Kantonsärztin Yvonne Hummel. Ein Gesicht, das viele inzwischen kennen. Sie ist jene Frau, die in den letzten Wochen unaufgeregt und kompetent über den aktuellen Stand der Coronakrise und die Massnahmen des Kantons informiert hat. Viel Zeit, sich in der Rolle der Kantonsärztin zurechtzufinden, hatte Yvonne Hummel nicht. 17 Tage nach ihrem Einstand gab es im Kanton Aargau den ersten Coronafall.
Sie mussten von Null auf Hundert starten. Was ist das für ein Gefühl?
Yvonne Hummel: Die Coronakrise hat mich überrannt. Natürlich habe ich vom Coronavirus in China und dessen Folgen gehört und mir Gedanken gemacht, was dies für die Schweiz – und insbesondere den Kanton Aargau – bedeuten wird. Trotzdem habe ich nicht damit gerechnet, dass ich kurz nach Stellenantritt in einer Taskforce eingebunden im Kantonalen Führungsstab mitarbeite. Aber es bleibt gar keine Zeit, gross darüber nachzudenken. Ich habe die mir zugeteilten Aufgaben übernommen und versucht, die anfallenden Probleme gut zu lösen. Ich konnte von Anfang an auf die Unterstützung des gesamten Teams des Departementes sowie des Kantonalen Führungsstabs zählen. Deshalb hatte ich trotz der grossen Herausforderung stets ein gutes Gefühl.
Sie wären noch in der Probezeit. Haben Sie schon einmal überlegt, aufzuhören?
Ich bin noch in der Probezeit. Aber Aufgeben war in meinem Leben noch nie eine Option. Ich habe mir bisher nie überlegt, aufzuhören. Es ist eine ausserordentliche Zeit mit spannenden Aufgaben. Ich engagiere mich gerne und wenn das Team gut funktioniert, nimmt man es weniger als Belastung wahr.
Sie haben den Facharzttitel für Innere Medizin und Medizinische Onkologie, haben in verschiedenen Spitälern gearbeitet und hatten eine eigene Praxis. Ihr Know-how als Ärztin wäre im Spital gefragt. Wären Sie manchmal lieber auf der anderen Seite?
Im Moment wäre es auch interessant, Teil eines klinischen Teams zu sein. Ich habe mich aber bewusst gegen eine weitere klinische Tätigkeit und für eine Funktion im gesundheitspolitischen Umfeld entschieden. Aufgrund meiner langjährigen klinischen Tätigkeit als Ärztin kenne ich das Gesundheitssystem – insbesondere auch im Kanton Aargau – gut und habe Verständnis für die Anliegen der Ärztinnen und Ärzte. Das sind wichtige Voraussetzungen für die Tätigkeit als Kantonsärztin, um eine gute Zusammenarbeit mit der Ärzteschaft sowie den diversen Gesundheitsinstitutionen zu gewährleisten.
Wann beginnt ihr Arbeitstag und endet er überhaupt irgendwann?
Ich bin um 7 Uhr im Büro und gehe meistens zwischen 19 und 20 Uhr nach Hause. Manchmal versuche ich, etwas früher zu gehen und dringende Sachen von zu Hause aus zu erledigen. Um gewisse Themen, die wegen der Aktualität liegen geblieben sind, kümmere ich mich am Wochenende. Aber ich versuche schon, die Wochenenden zunehmend freizuhalten.
Woher nehmen Sie die Kraft, diese enorme Arbeitslast zu stemmen?
Ehrlichgesagt weiss ich nicht genau, woher die Kraft kommt. Das war schon so, als ich als klinisch tätige Ärztin gearbeitet habe. Für diese Gabe bin ich sehr dankbar. Zudem fallen alle Arbeiten, die Freude machen, viel leichter.
Was tun Sie als erstes, wenn Sie am Abend zu Hause ankommen?
Ich habe fünf Katzen, die Hunger haben, wenn ich nach Hause komme. Das Erste, was ich tue, ist, sie zu füttern. Und ich ziehe meine privaten Kleider an. Das hilft, die Arbeitsrolle abzulegen.
Wie schalten Sie ab?
Ich lese Bücher, gehe gerne im Wald laufen oder kümmere mich um meinen Garten. Nächstens möchte ich zum Beispiel unbedingt Kartoffeln anpflanzen. Seit ein paar Jahren meditiere ich regelmässig oder mache Yoga. Das ist in den letzten zwei Monaten zwar etwas zu kurz gekommen. Aber wenn ich merke, dass ich sehr gestresst bin, setze ich mich hin und mache diese Übungen.
Wo müssen Sie im Privaten Abstriche machen?
Mein Mann übernimmt im Moment natürlich deutlich mehr. Alles, was zu Hause anfällt, macht er. Aber wir sind ein eingespieltes Team. Es gab immer wieder Phasen, in denen er oder ich mehr belastet waren und der andere eingesprungen ist. Persönlich fehlt mir die Zeit für Hobbys. Ich komme kaum dazu, zu kochen, zu lesen oder draussen Sport zu machen.
Haben Sie noch betagte Eltern, um die Sie sich kümmern?
Mein Vater lebt nicht mehr. Meiner Mutter geht es gut. Wir haben regelmässigen Kontakt entweder über das Telefon oder SMS. Hilfe bekommt sie von meinen drei Geschwistern, die in ihrer Nähe leben. Ich selber muss im Moment also nicht viel unterstützen. Es ist eher umgekehrt, dass meine Familie fragt, wie sie mich unterstützen könne.
Geht Ihnen die aktuelle Situation auch persönlich nahe?
Natürlich. Ich fühle mit allen Coronapatienten mit und mit den Mitarbeitenden in den Spitälern, Pflegeheimen und anderen Institutionen. Was sie durchmachen und leisten, motiviert mich, meinen Teil beizutragen.
In einer Ausnahmesituation lernt man immer viel über sich selber. Gab es einen Moment, in dem Sie über sich selbst gestaunt haben?
Ich habe bei Stellenantritt nicht erwartet, dass ich so in die Öffentlichkeit gerückt werde, dass ich fast täglich im Fernsehen zu sehen bin und sich jemand für die Funktion der Kantonsärztin oder mich als Person interessiert. Das Interesse ist natürlich nachvollziehbar. Für mich persönlich ist es aber eine grosse Herausforderung.
Die Angst vor einem Kollaps des Gesundheitswesens ist da. Dann müssten Ärzte entscheiden, wem geholfen wird und wem nicht. Mussten Sie schon einmal einen solchen Entscheid fällen?
Ich war bisher nie in der Situation, dass wir zu wenig Ressourcen hatten. In der Onkologie stellen sich natürlich ähnliche Fragen. Es geht dabei aber nicht um beschränkte Ressourcen, sondern um Kosten. Darum, ob es die extrem teure Krebstherapie braucht oder nicht. Insofern war ich regelmässig konfrontiert mit solchen Überlegungen. Sie sind Teil des ärztlichen Alltags. Wegen Corona wird jetzt mehr darüber gesprochen, weil wir den Engpass bei den Intensivbetten haben.
Begrüssen Sie diese Diskussion?
Sehr. Vor allem, weil es in der Diskussion nicht darum gehen soll, jemandem etwas vorzuenthalten. Es geht darum, im Gespräch transparent aufzuzeigen, was der mögliche Nutzen und was die Risiken sind. Ich habe es in der Onkologie oft erlebt, dass sich jemand gegen die maximale Therapie entschieden hat, wenn man ihm aufgezeigt hat, dass diese nicht viel bringen wird. Es ist aber wichtig, den Patienten zu sagen, dass man sie trotzdem nicht im Stich lässt, sondern sie palliativ begleitet, die auftretenden Beschwerden wie zum Beispiel Schmerzen, Atemnot oder Angst lindern kann und für sie da ist.
Im Aargau sind zwölf Personen an den Folgen des Coronavirus gestorben. Wie viele wurden auf der Intensivstation behandelt?
Nur eine Person wurde beatmet und ist dann gestorben. Alle anderen Patienten oder deren Angehörigen wollten keine intensivmedizinischen Therapien.
Auch Regierungsrat Urs Hofmann und Regierungssprecher Peter Buri sind wegen Corona im Spital. Sie sind nicht die einzigen in der Verwaltung, die sich angesteckt haben. Beunruhigt Sie diese Häufung?
Es tut mir sehr leid für jene Personen, die es betrifft. Ich hoffe, dass es ihnen bald besser geht und sie sich von der Erkrankung rasch erholen. Gleichzeitig zeigt es uns, wie real die Epidemie ist. Es kann jede und jeden treffen. Wir haben zwischenzeitlich spezielle Massnahmen ergriffen für jene Teams mit vielen Ausfällen. Zum Beispiel haben wir bei Kontaktpersonen die Quarantäne streng angeordnet, wo möglich arbeiten die Mitarbeitenden im Homeoffice und die hygienische Massnahmen wurden intensiviert.
Hat man das verpasst?
Aufgrund ihrer Funktion sind die Regierungsräte einer höheren Ansteckungsgefahr ausgesetzt als Personen in anderen Tätigkeitsfeldern. Dabei kam es unglücklicherweise zu einer Ansteckung der betroffenen Regierungsmitglieder. In einer Kommandozentrale des Kantonalen Führungsstabs müssen Entscheidungen meistens rasch gefällt werden. Dazu sind kurze Wege zwischen den Mitarbeitenden sehr hilfreich. Aufgrund diverser Erkrankungsfälle haben wir nun auch dort zusätzliche Massnahmen umgesetzt und nehmen dafür in Kauf, dass die Entscheidungswege länger werden.
Je länger der Lockdown dauert, desto lauter werden die Stimmen, zum Beispiel aus der Wirtschaft, die eine baldige Lockerung der Massnahmen verlangen. Haben Sie dafür Verständnis?
Absolut. Wir sind alle Teil dieser Wirtschaft. Es ist eine schwierige Entscheidung, die der Bundesrat treffen muss. Er muss zwischen dem gesundheitlichen Schutz der Bevölkerung und des Gesundheitssystems auf der einen Seite und dem Wirtschaftssystem auf der anderen Seite abwägen.
Müsste man aus medizinischer Sicht noch weiter gehen und zum Beispiel über Ostern eine Ausgangssperre verhängen?
Das hängt davon ab, ob sich die Bevölkerung dieses Wochenende an die Massnahmen gehalten hat und davon, wie sich die Zahlen der positiven Coronavirus-Fälle entwickeln.
Worauf freuen Sie sich, wenn die Coronakrise überstanden ist?
Privat freue ich mich, dass ich wieder mehr Freiheiten und Freizeit habe. Ich freue mich auf meinen Garten und die Natur – und dass ich wieder einmal zum Coiffeur gehen kann. Beruflich habe ich mich bisher in der Katastrophensituation einbringen dürfen. Einen grossen Teil der kantonsärztlichen Aufgaben kenne ich bisher nur oberflächlich oder noch gar nicht. Ich freue mich darauf, mich nach der Coronakrise in alle kantonsärztlichen Aufgaben einzuarbeiten.
Hoffentlich erscheint Ihnen der Rest nach Corona nicht zu langweilig und unspektakulär.
Ich bin sicher, dass mich noch viele interessante Aufgaben als Kantonsärztin erwarten. Ich freue mich darauf.