
Die Erde bebt – wanken auch die AKW?
Naturgewalt: Das Erdbeben war bis in den Aargau zu spüren und befeuert den Streit um die Sicherheit der Atomkraftwerke
Um 21.12 bebte die Erde. Die Erschütterungen reichten am Montag bis in den Aargau – jenen Kanton, der als Standort von drei Atomreaktoren ein besonders hohes Gefährdungspotenzial aufweist. Das Erdbeben sei auch im Bereich der AKW Beznau und Leibstadt zu spüren gewesen, sagt Donat Fäh vom Schweizerischen Erdbebendienst. Auf der Skala, welche die Intensität festlegt, erreichte das Beben in diesen Gebieten allerdings nur die Stufe 3 (von wenigen Personen schwach verspürt). Zum Vergleich: Am Montagabend war der schweizweit höchste Wert die Intensität 5 (von den meisten Personen stark verspürt). Ab Stufe 6 kommt es zu leichten Gebäudeschäden, ab Stufe 8 können schlecht gebaute Gebäude einstürzen. Fäh sagt: «Um die Atomkraftwerke in Gefahr zu bringen, müsste die Erde deutlich stärker beben.»
Eine Beinahe-Katastrophe?
Dennoch schreiben die Jungen Grünen im Titel ihrer Mitteilung, die sie kurz nach dem Erdbeben am Montagabend verschickten: «Schweiz knapp an einer Atomkatastrophe vorbeigeschrammt.» Ihre Kritik: «Auch wenn die altersschwachen Nuklearkraftwerke nachgerüstet wurden, sind sie bis heute ungenügend gegen die Gefahren von Erdbeben geschützt.» Die Jungen Grünen kommen zum Schluss, dass die Sicherheit der Bevölkerung bei einem stärkeren oder näheren Beben nicht garantiert gewesen wäre. «Beznau I und II sind nur auf Erdbeben der Stärke 5 ausgerichtet.»
Die Beznau-Betreiberin Axpo weist die Kritik der Jungen Grünen auf Anfrage zurück. Sprecher Tobias Kistner: «Die bisherigen Nachweise zeigen, dass das Kernkraftwerk Beznau einem 10000-jährlichen Erdbeben standhalten kann.» Alle bisher geforderten Sicherheitsnachweise für den Störfall Erdbeben seien erbracht worden. Unzutreffend sei auch, dass die Schweiz an einer Atomkatastrophe vorbeigeschrammt sei. Eine Gefahr habe nie bestanden, sagt Kistner. «Bei der Magnitude, die am Montagabend registriert wurde, treten an einem Kernkraftwerk keine Schäden auf. Unsere Kontrollgänge haben dies bestätigt.» Auch aus Leibstadt kommt Entwarnung: Die registrierten Werte seien weit unterhalb des Alarmbereiches gewesen.
Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) bestätigt diese Einschätzung. «Es bestand keine Gefahr», sagt Ensi-Sprecher Sebastian Hueber. Die Atomkraftwerke in der Schweiz erfüllten die Anforderungen des Gesetzgebers und hätten bereits mehrfach nachgewiesen, dass sie einem Erdbeben, das in 10000 Jahren höchstens einmal vorkommt, standhalten würden. Doch das Ereignis vom Montagabend sei weit weg von einem Vorfall dieser Grössenordnung. In welchem Bereich sich ein 10000-jährliches Erdbeben bewegen würde, lasse sich nicht beziffern. Der Grund: Nicht nur die Magnitude – also der Wert auf der Richterskala –, sondern auch andere Faktoren wie die Distanz zum Epizentrum oder die Bodenbeschaffenheit sind ausschlaggebend.
Greenpeace: «Ein Weckruf»
Nach der Katastrophe in Fukushima 2011 mussten die AKW-Betreiber den Nachweis erbringen, dass ihre Anlagen erdbebensicher sind. Damals lautete das Fazit des Ensi: Die Sicherheit ist auch dann gewährleistet, wenn es zu einem 10000-jährlichen Erdbeben und einem damit verbundenen Hochwasser kommen sollte. Damit wollten sich Umweltorganisationen und eine Gruppe Anwohner nicht zufriedengeben – und verlangten die Stilllegung von Beznau wegen mangelnder Erdbebensicherheit. Inzwischen liegt die Verfügung des Ensi vor: Die AKW-Gegner finden bei der Aufsichtsbehörde kein Gehör. Der Nachweis sei rechtmässig akzeptiert worden. Die Verfügung ist allerdings noch nicht rechtskräftig, dagegen kann Beschwerde erhoben werden.
Greenpeace-Atomexperte Florian Kasser sagt, der logische nächste Schritt wäre der Weiterzug ans Bundesverwaltungsgericht. Ein Entscheid sei aber noch nicht gefallen. Als «Weckruf» wertet Kasser den jüngsten Vorfall: «Das AKW Beznau ist schlecht gegen starke Erdbeben geschützt.» Während der Streit andauert, müssen die Betreiber bis 2020 erneut aufzeigen, dass ihre Anlagen auch einem «extrem seltenen starken Erdbeben» standhalten könnten. Denn, so schreibt das Ensi, obwohl die Atomkraftwerke zu den erdbebensichersten Gebäuden der Schweiz gehörten, hätten Erdbeben den grössten Anteil an dessen Risiko.
«Wenn ein Erdbeben zu relevanten Abweichungen führt, wird die Reaktoranlage automatisch abgeschaltet», sagt Konstantin Bachmann, Sprecher des AKW Gösgen, gleich neben der Aargauer Grenze. Die Werte beim montäglichen Beben seien weit unter jeder betrieblich relevanten Schwelle gewesen. Das Kraftwerk in Gösgen widerstehe Ereignissen «mit mehr als dem tausendfachen Energiegehalt des Linthaler Bebens vom Montagabend».