Die SVP Aargau feiert ihr hundertjähriges Bestehen: So wurde die Partei zur grössten im Kanton

100 Jahre – dieses Jubiläum wollte die SVP Aargau eigentlich vergangenen Freitag auf dem Campus der Fachhochschule Nordwestschweiz in Brugg-Windisch mit einem grossen Fest feierlich begehen, in Anwesenheit eines oder sogar beider SVP-Bundesräte. Wegen der Coronapandemie fielen die Feierlichkeiten aber ins Wasser. Um den runden Geburtstag dennoch zu würdigen, traf sich die Parteileitung mit Bundesrat Guy Parmelin am Freitag zum Apéro und anschliessenden Nachtessen im «Roten Haus» in Brugg, wo die Partei vor 100 Jahren gegründet worden war.

Wie es überhaupt zur Parteigründung kam, erklärt alt Bundesrichter Rudolf Ursprung in seiner Festschrift «100 Jahre SVP Aargau»: Das langjährige Parteimitglied beleuchtet darin die wichtigsten Etappen der hundertjährigen Geschichte der SVP Aargau und zeigt auf, wie aus der einstmaligen Bauernpartei die wählerstärkste politische Kraft im Kanton wurde.

Als Bauernpartei inmitten der sozialen Unruhen gegründet

Rudolf Ursprung schildert zunächst, wie die gesellschaftlichen Konflikte nach dem Ersten Weltkrieg zur Geburtsstunde der heutigen SVP Aargau wurden: Angesichts der sozialen Spannungen forderten Bauern- und Arbeiterkreise ein neues Wahlsystem. Im alten Majorzwahlsystem erhielt die Partei mit dem höchsten Stimmenanteil (damals die FDP) fast alle Sitze in den Parlamenten, die anderen Parteien praktisch keine.

So waren auch die Bauern, die bis dahin noch nicht parteipolitisch organisiert waren, nur schwach vertreten. Als der Kanton Aargau 1920 das Proporzwahlsystem einführte, bei dem die Sitze proportional zum Stimmenanteil vergeben werden, sei der Startschuss für die Gründung einer kantonalen Bauernpartei gefallen, schreibt Ursprung.

«Kühler wurden die Kontakte der FDP mit Andreas Glarner, der überzeugt war, dass nur er die richtige bürgerliche Politik vertritt.»

Herbert H. Scholl, Grossrat FDP: «Kühler wurden die Kontakte der FDP mit Andreas Glarner, der überzeugt war, dass nur er die richtige bürgerliche Politik vertritt.» © CH Media

Am 18. Dezember 1920 gründeten die Delegierten der kantonalen Bauernvereinigungen im «Roten Haus» in Brugg die Bauern- und Bürgerpartei BBP, welche die Anliegen der Bauern politisch vertreten wollte. Damit hatte sie unter der Führung ihres ersten Präsidenten Jakob Baumann auf Anhieb grossen Erfolg. Bereits 1919, also noch vor der Gründung der BBP, konnten die Bauern drei von zwölf Nationalratssitzen im Aargau erobern. Zwei Jahre später erhielt die BBP an ihren ersten Grossratswahlen fast einen Viertel aller ­Stimmen, knapp mehr als die FDP und die CVP.

Ausserdem gelang es ihr, ab 1921 mit einem und ab 1929 mit zwei Regierungsräten vertreten zu sein – ein Novum, hatte doch zuvor im Aargau keine Partei ausser der FDP mehr als einen Regierungsrat gestellt. Die junge Partei sei jedoch bald vor das Problem gestellt worden, Wählerstimmen ausserhalb der Bauernkreise zu gewinnen, erklärt der Autor der Festschrift. Diese Herausforderung habe die spätere SVP Aargau denn auch in den nächsten 50 Jahren ihrer Geschichte beschäftigt.

Juniorpartnerin der FDP während eines halben Jahrhunderts

Mit der Wirtschaftskrise der 30er-Jahre und dem Zweiten Weltkrieg begann eine Zeit der Stagnation für die Partei, die bis zum Beginn der 80er-Jahre anhalten sollte. Während der Vor- und Nachkriegsjahre erhielten links-bürgerliche Parteien wie die Jungbauernbewegung und der Landesring der Unabhängigen wegen ihrer Sozialpolitik grossen Zulauf.

Da die beiden Parteien ebenfalls Bauernkreise ansprachen, habe die BBP viele Stimmen verloren, erklärt Ursprung. 1939 musste sie ein Nationalratsmandat an die Jungbauern abgeben. Einen weiteren Grund für die Verluste sieht Ursprung darin, dass der Anteil der Bauern an der Bevölkerung stetig abnahm. Die Bauernpartei habe daher zunehmend versucht, ihre Wählerbasis auf Gewerbler, Händler und Angestellte auszuweiten.

«Mich beeindrucken das kraftvolle Engagement der Partei, die klare Haltung. Mich irritiert der oft provozierende, zeitweise aggressive Ton.»

Peter Wertli, alt Regierungsrat CVP: «Mich beeindrucken das kraftvolle Engagement der Partei, die klare Haltung. Mich irritiert der oft provozierende, zeitweise aggressive Ton.» © CH Media

1937 entstand mit der Fusion der BBP und anderen kantonalen Bauernparteien die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei BGB. Trotz des neuen Namens schaffte es die Aargauer Sektion nicht, mehr Wähler anzusprechen, und fuhr nach Kriegsende grosse Verluste ein: Bei den Grossratswahlen 1945 fiel die Partei auf 18 Prozent, 1949 verlor sie ihren zweiten Regierungsratssitz. Für die nächsten 50 Jahre lag ihr Wähleranteil unter der 20-Prozent-Marke.

«War die Bauernpartei bei ihrer Gründung noch die wählerstärkste bürgerliche Kraft gewesen, fiel ihr nach dem Zweiten Weltkrieg noch die Rolle des nützlichen Steigbügelhalters der dominierenden FDP und CVP zu», kommentiert Ursprung diese Phase der Parteigeschichte. Die BGB habe im Gegenzug zu den Jungbauern und anderen Parteien, die sich nach ein paar Legislaturen wieder auflösten, ihren Stimmenanteil aber zumindest bei etwa 15 Prozent «konsolidieren» können.

Am 22. September 1971 fusionierte die BGB Schweiz mit den Bündner Demokraten, die besonders von Angestelltenkreisen gewählt wurden, zur Schweizerischen Volkspartei SVP. Durch die Fusion kandidierten laut Ursprung nicht mehr nur Landwirte und Gewerbler, sondern auch Angestellte und Anwälte für die SVP. An den tiefen Wahlergebnissen habe dies vorerst allerdings nichts geändert, so der Autor: Die SVP Aargau erzielte bei den Nationalratswahlen im selben Jahr mit 12 Prozent Wähleranteil das schlechteste Resultat ihrer Geschichte.

Die SVP hat ihren Stimmenanteil innert 10 Jahren verdoppelt

Erst in den 80er-Jahren habe die Partei wieder etwas Aufbruchstimmung verspürt, schildert Ursprung: Der Wähleranteil stieg, 1987 eroberte sie einen dritten Nationalratssitz. Diesen Aufschwung habe die SVP Aargau ihrer «starken Verwurzelung auf Gemeindeebene» und ihrer breit abgestützten Wählerschaft und Themenpalette zu verdanken, erklärt Ursprung. Von da an sei die ursprüngliche Bauernpartei zur «Schweizerischen Mittelstands- und Volkspartei» geworden.

Ab den 90er-Jahren habe dann eine politische Umorientierung stattgefunden: «Das Fundament der SVP ist zwar das Gleiche geblieben, sie versteht sich aber heute in erster Linie als Bewahrerin des Schweizerischen, insbesondere der Unabhängigkeit des Landes und seiner direkten Demokratie», so die persönliche Erfahrung des langjährigen Parteimitglieds.

Im Zentrum dieser Entwicklung stand der nationale Abstimmungserfolg der SVP gegen den EWR-Beitritt der Schweiz von 1992. Von da an ging es rasant aufwärts für die SVP Aargau: An den Nationalratswahlen 1995 wurde sie zur stärksten Partei und eroberte mit Maximilian Reimann einen Ständeratssitz. Innert der nächsten Legislatur stieg ihr Stimmenanteil sowohl im Nationalrat als auch im Grossen Rat um 12 Prozentpunkte auf über 30 Prozent. Das waren doppelt so viele Wählerstimmen als noch 10 Jahre zuvor.

«Die Steigerung der Wähleranteile ist zu einem rechten Anteil auf Gewinne in den traditionell katholischen Wählerschichten im Ostaargau zurückzuführen», erklärt Ursprung diesen raschen Anstieg. Ihr bisher bestes Ergebnis erreichte die SVP Aargau in den Nationalratswahlen von 2015, als sie 38 Prozent aller Stimmen erhielt. Seit 2017 stellt sie zwei Regierungsräte. Die Rolle des «Juniorpartners» von FDP und CVP habe die Partei damit abgelegt, schreibt Ursprung.

Für ihn hängt der aktuelle Erfolg der SVP klar mit ihrer politischen Neuorientierung zusammen, durch welche sich die Partei den neuen Anliegen der Bevölkerung angepasst habe. Trotz all der Veränderungen in den vergangenen 100 Jahren sei die SVP Aargau aber dennoch ihren Grundwerten von 1921 treu geblieben, so Ursprung.

Wenig Kompromissbereitschaft und «extreme Haltungen»

Das Parteimitglied wirft aber auch einen kritischen Blick auf die aktuellen Entwicklungen der SVP Aargau. Diese habe in den letzten paar Jahren mehrfach mit personellen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt. Auch das Fehlen von Frauenkandidaturen, mangelnde Kompromissbereitschaft gegenüber den anderen Parteien und «extreme Haltungen von Mitgliedern» zählt Ursprung zu den Herausforderungen, welche die Partei in Zukunft bewältigen müsse.

Mit alt National- und Regierungsrat Silvio Bircher (SP), alt Regierungsrat Peter Wertli (CVP) und Grossrat Herbert H. Scholl (FDP) lässt Rudolf Ursprung in der Festschrift auch drei politische Konkurrenten zu Wort kommen, die in den Stellungnahmen zu ihren persönlichen Erfahrungen mit der SVP Aargau sowohl Lob als auch Kritik an der Partei üben.