Die Verkannte: Gesundheitspolitikerin Ruth Humbel ist wichtiger, als viele glauben

Und wieder muss sie Haue einstecken. Schon zum zweiten Mal innerhalb von sechs Wochen wird Ruth Humbel in der SRF-Sendung «Late Update» vorgeführt: Die böse Lobbyistin, die sich nicht um die Anliegen ihrer Wählerschaft, sondern um jene der Privatwirtschaft kümmert. Das Etikett, ein verlängerter Arm der Krankenkassenlobby zu sein, haftet seit Jahren an ihr. Jetzt wird der CVP-Nationalrätin aus dem Aargau zusätzlich eine ungesunde Nähe zur Pharmalobby vorgeworfen, weil sie Mitglied der IG seltene Krankheiten ist. Der Verein will die Forschung bei jenen Krankheiten fördern, bei welchen sich Investitionen wegen geringen Medikamentenverkaufs kaum lohnen.

Nun lässt sich trefflich diskutieren, inwiefern es verwerflich ist, Partikularinteressen zu vertreten. Allerdings zielt das genau an der Person vorbei, die in der Kritik steht. Ruth Humbel hat zwar verschiedene Mandate gesammelt, sie ist aber keine Briefträgerin der Verbände, sondern agiert zuweilen auch gegen deren Interessen. Das zeigen ihre Vorstösse, mit welchen sie die Patientensicherheit in den Spitälern verbessern, den Patienten die Nutzung elektronischer Dossiers schmackhaft machen und den Apothekern neue Finanzierungsquellen ermöglichen will. Das System verbessern anstatt sich an alten Mustern festzuklammern, sehe sie als Auftrag. Doch hat sie in den 16 Jahren Parlamentsarbeit gelernt, dass man vor allem in kleinen Schritten vorwärtskommt. Immerhin.

Die Allzweckwaffe

Sogar politische Gegner attestieren, dass ihre Dossierkenntnis jene von anderen Kommissionsmitgliedern um ein Vielfaches übersteigt. Und dass sie mit ihren Vorstössen wichtige Debatten anstösst. Und: Dass ihr Änderungen im schwer reformierbaren Gesundheitswesen glücken. Das hat ihr bei Ständeratskollegen den Spitznamen «Allzweckwaffe» eingebracht.

Ihre politischen Erfolge sind nicht offensichtlich: Denn genauso unbestritten wie die Dossierkenntnis ist ihr rhetorisches Manko. «Sie kann ihre Ideen nicht verkaufen», sagt ein Kommissionskollege. Wenn sie argumentiert und Gesetzesartikel aufzählt, überfordert sie das Gegenüber schnell. Die knochentrockene Arbeit am Krankenversicherungsgesetz ist höchst unsexy, eine Fleissarbeit ohne Garantie auf Erfolg.

Ein Beispiel? An der einheitlichen Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen arbeitet sie zusammen mit den Kollegen in der Subkommission seit nunmehr fünf Jahren. Der Aargauer SVP-Nationalrat Ueli Giezendanner spricht von einem «entscheidenden Schritt», um die Gesundheitskosten besser zu kontrollieren. Trotzdem steht das Projekt zum wiederholten Mal am Abgrund: SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi, ebenfalls Mitglied der Gesundheitskommission, will das Projekt abwürgen. Auch das ist typisch für das Gesundheitswesen: Sobald es konkret wird, verflüchtigen sich die Mehrheiten.

Ein anderes Beispiel? Humbel hat mit dem Pflegeverband einen Weg gefunden, um die Anliegen der Initiative in einem Gegenvorschlag aufzunehmen. Von links und rechts wird dieser nun so stark mit zusätzlichen Elementen überladen, dass er am Schluss nicht mehr mehrheitsfähig ist.

Die Dealmaker fehlen

Hier offenbaren sich zwei weitere Probleme. Die Vorlagen müssen gerade angesichts der gewichtigen Partikularinteressen breit abgestützt sein, um zu gelingen. Im Gesundheitsmarkt stecken heute über 80 Milliarden Franken. Es geht also schnell um viel Geld. Wichtig sei deshalb bei jeder Reform, eine «Opfersymmetrie» zu finden, sagt Ruth Humbel. Das bedeutet im aktuellen Beispiel der Franchisen-Diskussion: Wenn Patienten mehr Leistungen aus dem eigenen Sack zahlen, müssen auch die Ärzte und Spitäler sowie die Krankenkassen einen Schritt machen.

Doch für solche Kompromisse fehlen im Rat die grossen Dealmaker: Ruth Humbel kann kaum einer das Wasser reichen. Die anderen Parteien mussten in dieser Legislatur auf wichtige Stützen in der Gesundheitspolitik verzichten: Toni Bortoluzzi (SVP/ZH), Ignazio Cassis (FDP/TI) und Jean-François Steiert (SP/FR) sind in höhere Ämter gewählt worden oder aus freien Stücken aus dem Nationalrat ausgeschieden.

Die SP hat zwar ausgewiesene Sozialpolitikerinnen, doch ausser Bea Heim (SO) pflegt das Gärtchen Gesundheitspolitik niemand intensiv. Die FDP baut auf zwei relative Neulinge, Regine Sauter (ZH) und Philippe Nantermod (VS) und die SVP hat zwar mit Heinz Brand (GR) und Thomas de Courten (BL) zwei gewichtige Vertreter in der Kommission, die Delegation scheint aber keine klare Strategie zu haben. Grosse Würfe im Gesundheitswesen lassen deshalb weiter auf sich warten.

Inhalte alleine genügen nicht

Dass sich die Kritik trotzdem auf Ruth Humbel konzentriert, hat weniger mit ihren Etappensiegen zu tun. Diese werden in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Vielmehr scheut sie auch unbequeme Fragen nicht. Sie verteidigt in der «Arena» das Gesetz für Versicherungsspione, während sich andere dafür zu schade sind. Zwar stimmte eine klare Mehrheit des Parlaments für eine gesetzliche Grundlage zur Überwachung von IV-Bezügern, falls ein Verdacht auf Betrug besteht. Öffentlich vertreten hat das Geschäft Ruth Humbel – was dazu führte, dass sie offen angefeindet, ihr Haus überwacht und sie wieder in die Ecke der Versicherungslobby gestellt wurde.

Klar vertritt sie die Interessen der Versicherer. Sie tue dies aber nur, wenn sie überzeugt sei, dass sich das System auch verbessern lasse, sagt sie. Sie vertraut dabei auf ihren Gerechtigkeitssinn. Was wiederum die Flapsigkeit im Umgang mit der Lobby-Kritik erklärt: Da sie keine Gelder von der Pharmaindustrie einsackt, hält sie die Angriffe für unfair. Und da ein Urteil darüber, was gerecht ist, sehr subjektiv ist, hat sich Ruth Humbel auch schon in die Nesseln gesetzt – etwa mit dem höheren Selbstbehalt für Fettleibige, für Raucher und für Alkoholiker: Wer sich selber schadet, muss die Kosten dafür tragen. Dabei liess sie ausser Acht, dass Gesundsein auch Glücksache ist.

Nur: Sachverstand, Hartnäckigkeit und Mut genügen im politischen Geschäft nicht, um populär zu sein. Das hat auch ihr Sohn in einem SRF-Dok erkannt. Er lobt und kritisiert zugleich, dass sich die Mutter bei ihren Auftritten zu stark auf Inhalte fokussiere. «Bei der Bevölkerung kommt das halt nicht an.»