
Ding-Dong, es ist Wahljahr: Bei der FDP bestimmt der Algorithmus, wo Politiker klingeln
Es gehört nicht unbedingt zur Schweizer DNA, Menschen zu stören. Privatsphäre wünscht man sich selber und gönnt sie auch den anderen. Aber die Nationalrats- und Ständeratswahlen stehen bevor, und als Kandidatin oder Kandidat will man sich und die Werte der eigenen Partei bekannt machen. Die FDP Aargau tut dies unter dem Motto «Von Tür zu Tür. Von Mensch zu Mensch.». Grossrätin Claudia Hauser und Parteipräsident Lukas Pfisterer waren letzten Samstag im Gönhard-Quartier in Aarau unterwegs. Klinkenputzen könnte man das, was die beiden taten, auch nennen. Beim Tür-zu-Tür-Wahlkampf geht es darum, mit potenziellen Wählerinnen und Wählern ins Gespräch zu kommen und herauszufinden, was sie beschäftigt.
Ding-Dong. Sollte niemand öffnen, wären Claudia Hauser und Lukas Pfisterer auch vorbereitet. In solchen Fällen hinterlassen sie an der Türfalle einen Türanhänger. An dieser Türe brauchen sie keinen. «Guete Morge, mer send vo de FDP.» Diesen Satz werden sie an diesem Vormittag noch ein paar Mal sagen. Es gehe um die Nationalratswahlen im Herbst. Da werde sie sich selber informieren, sagt die junge Frau. Was sie denn beschäftige, möchte Lukas Pfisterer wissen. «Der Klimaschutz.»
Gerade keine Zeit
Darauf haben nicht alle Lust. Das teilen sie jeweils freundlich mit. Niemand knallt den FDPlern die Tür vor der Nase zu. Niemand wird laut. Sie haben gerade «keine Zeit» oder müssen «vorwärtsmachen».
SP klingelt schon länger
Gleichzeitig wie die FDP sind Teams der SP Aargau unterwegs. Auch die Sozialdemokraten setzen – neben der traditionellen Telefonaktion – auf den Tür-zu-Tür-Wahlkampf. Sie verfolgen die gleichen Ziele wie die FDP. «Wir möchten mit den Menschen in Kontakt kommen und erfahren, wo der Schuh drückt und was sie von der Politik erwarten», sagt Parteipräsidentin Gabriela Suter. Der Tür-zu-Tür-Wahlkampf ist für die Partei nicht neu. «Die SP setzt bereits seit mehreren Jahren in verschiedenen Kantonen darauf. Im Aargau waren wir schon 2015 in Baden und Brugg unterwegs», sagt Gabriela Suter.
Die FDP überlässt bei ihrem Tür-zu-Tür-Wahlkampf nichts dem Zufall. Die Teams wissen, dass hinter den Türen, an denen sie klingeln, wahrscheinlich FDP-Sympathisanten wohnen. Gemeinsam mit dem Politforschungsinstitut gfs.bern hat die Partei aus Umfragen und öffentlich zugänglichen Daten ein Modell erstellt. Dieses filtert in einer Gemeinde Quartiere und Strassen nach Wählerpotenzial. Davon verspricht sich die Partei «eine zielgenaue Ansprache».
Claudia Hauser steuert auf eine Haustüre zu. Lukas Pfisterer studiert das Namensschild am Briefkasten. «Hier müssen wir nicht klingeln», sagt er. «Das sind FDPler.» Sie seien in seinem Unterstützungskomitee und würden auch an die Urne gehen. «Der Algorithmus stimmt», stellt er zufrieden fest.
Manchmal liegt er auch falsch. Einmal klingeln sie bei einem Deutschen, der als Ausländer gar nicht wählen darf, aber durchaus Sympathien für die Freisinnigen hegt. Einmal öffnet ihnen ein Mann die Tür, der Mitglied bei der CVP ist. Ins Gespräch kommen sie trotzdem.
Das Modell und die Daten dahinter seien das eine, sagt Urs Bieri, Co-Leiter von gfs.bern. «Deutlich wichtiger ist es, hinzugehen und an der Haustüre im Gespräch zu überzeugen.» Dass sich mit dem Tür-zu-Tür-Wahlkampf durchaus etwas erreichen lasse, habe ein Testlauf im Kanton Zürich gezeigt. «In jenen Quartieren, in denen die Politikerinnen und Politiker unterwegs waren, ist der Wähleranteil um 0,5 Prozent gestiegen», sagt Urs Bieri. Das klinge womöglich nicht nach viel, spreche in der Schweiz aber für eine gute Massnahme. Das Risiko, dass Politikerinnen und Politiker jemanden verärgern könnten, weil sie ihn zu Hause stören, sei vernachlässigbar, findet Urs Bieri. «Wenn Parteien im Wahlkampf nicht mehr auf sich aufmerksam machen dürfen, funktioniert die Demokratie nicht mehr.» Er findet, die heutige individualisierte Gesellschaft habe verlernt, dass Politik im Diskurs entsteht.
Verärgert sind die potenziellen Wählerinnen und Wähler nicht. «Solange sie nicht am frühen Morgen kommen», sagt einer. Eine Frau ist sogar positiv überrascht und findet es «unglaublich, dass Lukas Pfisterer und Claudia Hauser das machen». Sonst sehe man die Kandidatinnen und Kandidaten ja immer nur auf Plakaten.
Eine Frage des Geldes
Die Sozialdemokraten haben für ihren Tür-zu-Tür-Wahlkampf – anders als die FDP – keine Daten analysiert. «Dieses Tool könnten wir uns gar nicht leisten», sagt Parteipräsidentin Gabriela Suter. «Die FDP hat Millionen, wir haben Menschen.» Bei der Auswahl der Strassen zähle die Partei auf ihre Mitglieder, welche die Leute in den Quartieren kennen. Gabriela Suter sagt, die Klingel-Aktion sei positiv aufgenommen worden. «Wahlkampf funktioniert am besten über den persönlichen Kontakt. So können sich Wählerinnen und Wähler direkt ein Bild von einem Kandidaten oder einer Kandidatin machen.»
Natürlich müssten sich die Politikerinnen und Politiker manchmal einen Schubs geben, um bei wildfremden Menschen zu klingeln. «Aber die guten Rückmeldungen motivieren, die Leute scheinen die Besuche zu schätzen», sagt sie. Der Tür-zu-Tür-Wahlkampf habe auch einen gewichtigen Vorteil im Vergleich zu Standaktionen an gut frequentierten Orten. «Zu Hause haben die Leute mehr Zeit für ein Gespräch.»
Nach rund zwei Stunden im Gönhard-Quartier brauchen Claudia Hauser und Lukas Pfisterer eine Pause. Der Tür-zu-Tür-Wahlkampf ist anstrengend. Trotzdem sind sie zufrieden und überzeugt, dass die Aktion etwas gebracht hat. An einigen Türen werden sie noch ein zweites Mal klingeln, dann, wenn der Wahlkampf in der heissen Phase ist. «Beim zweiten Besuch geht es darum, die Leute zu mobilisieren, sie zu überzeugen, dass es wichtig ist, an die Urne zu gehen», sagt Lukas Pfisterer.